Absicht unterstellt
von Rainer Rupp
erschienen am 19.10.1999 in der Jungen Welt
Britische Zeitung bestätigt: NATO zerstörte bewußt chinesische Botschaft in Belgrad
In einem Bericht aus Kopenhagen und Washington behauptete das liberale britische Sonntagsblatt »Observer« am Wochenende, daß die NATO in der Nacht zum 8. Mai dieses Jahres die chinesische Botschaft in Belgrad absichtlich bombardiert hatte. Demnach habe die Allianz erfahren, daß die Botschaft während des Krieges dazu benutzt wurde, »jugoslawische Armeekommunikationen zu übertragen«. Die elektronische Aufklärung des Angriffsbündnisses hätte herausgefunden, daß von dort aus Befehle des jugoslawischen Generalstabes an die Einheiten an der Front verschickt wurden, nachdem Armee-eigene Funkstationen von der NATO zerstört worden waren. Daher sei die chinesische Botschaft von der Liste der nicht anzugreifenden Ziele gestrichen worden, so der Observer. Dies sei von höchsten Quellen in den militärischen und geheimdienstlichen Strukturen der NATO sowohl in Europa als auch in den USA bestätigt worden.
Der Bericht stützt sich auf drei NATO-Offiziere: einen Kontrolleur der Flugüberwachung, der während des Krieges im NATO-Kommando in Neapel eingesetzt war, einen Nachrichtendienstoffizier, der von Mazedonien aus den jugoslawischen Funkverkehr abhörte, und einen hochrangigen Offizier aus dem NATO-Hauptquartier in Brüssel. Demnach vermutete die NATO, daß die Chinesen von Belgrad aus die Cruise-Missile-Angriffe der USA auf die jugoslawische Hauptstadt genau überwachten und dabei waren, wirkungsvolle Gegenmaßnahmen gegen die unbemannten US- Flugkörper zu entwickeln.
Der Nachrichtendienstoffizier wird vom »Observer« wie folgt zitiert: »Die NATO hatte Jagd auf die Funkstationen in Belgrad gemacht. Nachdem der Wohnsitz des Präsidenten Milosevics am 23. April bombardiert worden war, waren die Signale für 24 Stunden verschwunden. Als sie dann wieder im Äther auftauchten, entdeckten wir, daß sie vom Botschaftsgelände kamen.« Angeblich habe der Erfolg der vorhergehenden Luftschläge die jugoslawische Bundesarmee gezwungen, zunächst die technischen Möglichkeiten am präsidialen Wohnsitz zu nutzen. Als die zerbombt worden waren, wären die Funkanlagen der chinesischen Botschaft genutzt worden. Das sei anhand des elektronischen Profils der chinesischen Botschaft von der NATO einwandfrei festgestellt worden.
Das Ergebnis dieser Untersuchung, die der »Observer« gemeinsam mit der dänischen Zeitung »Politiken« durchgeführt hat, dürfte die NATO und insbesondere die amerikanische und britische Regierung in arge Verlegenheit bringen. Am heutigen Dienstag wollen die britische Königin und Premierminister Tony Blair den chinesischen Präsidenten Jiang Zemin zu einem Staatsbesuch empfangen.
Von Jiang Zemin hört man, daß er wegen des Botschaftsangriffs immer noch sehr verärgert ist. Peking war von Anfang an von einer absichtlichen Provokation der USA ausgegangen. Peking zufolge sei es Washington darum gegangen, China die eigene Hilflosigkeit vorzuführen und eine Lektion über die Effizienz amerikanischer Hochtechnologiewaffen zu erteilen.
Wegen des Luftschlages gegen die Botschaft war es fast zu einem Auseinanderbrechen des NATO- Angriffsbündnisses gekommen. Gleich nach der Attacke bezeichneten US-Präsident William Clinton und CIA- Direktor George Tenet den Botschaftsangriff als einen bedauerlichen Irrtum. Eine Entschuldigung folgte, vermochte aber wenig zu überzeugen und Proteste gegen US-amerikanische Einrichtungen in China zu verhindern. Der Zielplanung hätte eine veraltete Karte zugrunde gelegen. Dort sei ein Logistikbüro der jugoslawischen Armee eingetragen gewesen, hieß es aus Washington. Später behauptete jedoch eine Quelle in den amerikanischen Nationalen Bild- und Kartenagentur, daß die Geschichte von der »falsche Karte« eine verdammte Lüge sei.
Der NATO-Luftüberwachungsoffizier in Neapel bestätigte gegenüber Observer und Politiken, daß es eine Karte der »Verbotenen Ziele« gegeben habe, auf denen Kirchen, Krankenhäuser und Botschaften, einschließlich der chinesischen, vermerkt waren. Auf dieser Karte sei die Botschaft Chinas an ihrer richtigen Stelle eingetragen gewesen.
Vom Observer auf die neuen Vorwürfe angesprochen, berief sich NATO-Sprecher McClenny am vergangenen Samstag auf die amtliche Version: »Es war ein schrecklicher Fehler« und » wir haben uns entschuldigt.« Auch das britische Verteidigungsministerium wies den Bericht als »haltlos« zurück. Ein Sprecher der chinesischen Botschaft in London sagte dagegen: »Wir glauben nicht, daß die Botschaft wegen eines Kartenfehlers bombardiert wurde.«