Anfang vom Ende? – Viele Bomben, kein Konzept

Anfang vom Ende? – Viele Bomben, kein Konzept

von Rainer Rupp

erschienen am 06.04.1999 und 08.04.1999 in der Jungen Welt

Die Aggression gegen Jugoslawien und die Neue NATO

In Osteuropa bis hin zum eurasischen Raum locken Märkte und Rohstoffe. Die ölreiche Region des Kaspischen Meeres, ehemals sowjetisches Territorium, haben die Vereinigten Staaten bereits zur Zone ihres vitalen Sicherheitsinteresses erklärt. Aber die geplanten Megainvestitionen der multinationalen Konzerne drohen an der politischen Instabilität der gesamten Region zu scheitern. »Ein riesiges Kosovo«, wie kürzlich eine amerikanische Zeitung schrieb.

Mit Hilfe der Selbstmandatierung will die Neue NATO in Zukunft weltweit, aber besonders im Osten, ihre wirtschaftlichen und politischen »Sicherheitsinteressen« durchsetzen. Völkerrecht und UNO stehen dieser neuen Weltordnung nur im Weg. Nach dem Willen ihrer amerikanischen Führung darf die NATO »in Zukunft keine andere politische Autorität als gleichberechtigt neben ihr und schon gar nicht über ihr akzeptieren«.

Wenn sich die Neue NATO im Osten als offensive Ordnungsmacht durchsetzen will, dann steht im Kosovo-Konflikt ihre zukünftige Daseinsberechtigung auf dem Spiel. Auf keinen Fall kann sie sich ohne schwerwiegende Folgen erlauben, auf dem Balkan zu versagen. Gelingt es ihr nicht einmal mit ihrer überwältigenden militärischen Macht in Europa, ihre neue Weltordnung durchzusetzen, dann wird der nachhaltige Verlust ihrer Glaubhaftigkeit ihre Durchsetzungsfähigkeit fernab von den europäischen Metropolen erst recht in Frage stellen. Davon hängt das Prestige und das zukünftige politische Gewicht der NATO ab.

Voreilig und mit übertriebener Hast hat die NATO im Kosovo ihre Autorität aufs Spiel gesetzt und – unabhängig vom weiteren Geschehen – bereits verloren. Selbst wenn in den nächsten Tagen die serbische Regierung (Foto: von der NATO zerstörtes Heizkraftwerk in Belgrad) das Handtuch werfen würde, das Kosovo würde weiter im Chaos versinken, die Gefahr der Destabilisierung der angrenzenden Regionen wäre nicht gebannt und die NATO, mit ihrem von den tatsächlichen Ereignissen ad absurdum geführten Anspruch, Stabilität zu schaffen, bliebe weiter in der Krise.

Ursache und Wirkung

In ihrer selbsterklärten Rolle als Krisenmanager hat sich die NATO unfähig gezeigt. Durch ihre Aktionen hat sie genau das herbeigeführt, was sie vorgab, verhindern zu wollen. Sie hat leichtfertig militärische Gewalt eingesetzt, ohne auch nur einen Teil der Konsequenzen zu bedenken – war es doch sogar für Laien absehbar, daß Luftschläge der NATO die serbische Führung in Belgrad nur dann bestärken würden, den separatistischen Widerstand im Kosovo mit allen Mitteln zu brechen. Und wie konnte man unterlassen, die durch die Luftangriffe provozierte Gefahr des Übergreifens des Konfliktes auf die angrenzenden Regionen ernsthaft zu überprüfen? Oder erlagen die Planer im NATO-Hauptquartier in Brüssel ihrer eigenen Propaganda? Und eventuell störende politische Faktoren wurden gar nicht erst in das NATO-Computerprogramm, das den Kosovo-Konflikt simulieren sollte, eingebaut?

Wenn das NATO »Friedens«-Diktat von Rambouillet je eine Chance hatte, so ist es nun endgültig tot. Seitdem die erste Bombe gefallen ist, formuliert die NATO dauernd ihre Ziele um. Ihren Mangel an einer politischen Strategie ersetzt sie mit militaristischem Aktionismus. Inzwischen scheint es der NATO nur noch darum zu gehen, das serbische Militär möglichst weitgehend zu zerschlagen. Aber selbst wenn dies gelingen würde, wäre der verbleibende Rest der jugoslawischen Armee der UCK im Kosovo immer noch haushoch überlegen.

Derweil üben sich die NATO-Hofberichterstatter in den Organen der »freien« Presse mit erstaunlicher Unverfrorenheit in militaristischer Propaganda. Mit Hilfe von Greuelgeschichten wird der Gegner als Bestie dargestellt und entmenschlicht. Nur so läßt sich rechtfertigen, daß von den NATO-Bomben zerfetzten serbischen Zivilisten überhaupt nicht gesprochen wird. Auch an der Art und Weise, wie die Abfolge der Geschehnisse, wie Ursache und Wirkung auf den Kopf gestellt werden, hätte sicherlich das Reichspropagandaministerium Gefallen gefunden. Beispiel: Die humanitäre Katastrophe, die erst durch den NATO- Bombenkrieg im Kosovo hervorgerufen wurde, dient nun als Rechtfertigung für die ursprüngliche Bombardierung.

Mit Logik und erst recht mit der Wahrheit haben es die politischen Kriegspropagandisten und ihre medialen Helfer noch nie genau genommen. Trotzdem dürfte mit jedem weiteren Tag des Bombenkriegs die Hoffnung des nordatlantischen Aggressionsbündnisses sinken, ohne schlimme Gesichtsverluste aus diesem verbrecherischen Kosovo-Abenteuer herauszukommen.

»Die Fehlleistungen des Bündnisses sind zu eklatant, als daß sie mit den besonderen und besonders vertrackten Umständen des Kosovo erklärt werden könnten. Sie deuten vielmehr darauf hin, daß die NATO vorerst damit überfordert ist, mit militärischen Mitteln in Europa oder gar darüber hinaus für Recht und Ordnung zu sorgen«, schrieb der desillusionierte Christoph Bertram in der »Zeit« vom 31. März 99. Verdrießlich fügt der westdeutsche sicherheitspolitische Experte und überzeugte Atlantiker hinzu: »Zwar ist es der NATO mit einer Serie von Luftangriffen gelungen, die militärische Infrastruktur Serbiens schwer zu beschädigen. Aber noch schwerer beschädigt ist die Glaubwürdigkeit des westlichen Bündnisses. … Es ist eine bittere Ironie, daß es doch gerade die Sorge um diese Glaubwürdigkeit war, die den Ausschlag für den Angriff gab … Wie immer der Konflikt ausgeht, … als Krisenmanager hat die NATO versagt«. Ist das der Anfang vom Ende der NATO?

Krisen überstanden

An Krisen innerhalb der NATO hatte es während der Zeiten des Kalten Kriegs nie gemangelt. Entsprechend oft ist der NATO das Ende vorausgesagt worden, genau wie dem Kapitalismus. Und genau wie der Kapitalismus ist es der NATO immer wieder gelungen, sich den neuen Bedingungen flexibel anzupassen und oftmals sogar noch augenscheinlich gestärkt aus den krisenhaften Querelen zwischen den Mitgliedsländern hervorzugehen. (Um nur einige dieser NATO-internen Krisen zu nennen: der Austritt Frankreichs aus der militärisch integrierten Planung der NATO, die Kungelei der USA mit den griechischen Obristen, die sich an die Macht geputscht hatten, die Spannungen innerhalb der NATO im Zuge ihrer sogenannten atomaren Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen oder – nicht zuletzt – transatlantische Handelskriege, die hauptsächlich zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den USA ausgefochten wurden.

»Kommunistische Gefahr«

Besonders wirtschaftlich, aber auch politisch wirkten während des Kalten Krieges innerhalb der NATO ständig starke zentrifugale Kräfte, vor allem auf die transatlantischen Beziehungen. Auch damals schon zeigte der »große Bruder« USA hegemoniale Attitüden, indem er allein entschied, die NATO-»Partner« vor vollendete Tatsache stellte und das Ganze dann »amerikanische Führung« nannte. Der transatlantische Kleinkrieg innerhalb der NATO kann exemplarisch anhand der ökonomischen und politischen Nadelstiche zwischen Paris und Washington und später zwischen Brüssel (EWG/EU) und Washington verfolgt werden. Solange jedoch noch die Sowjetunion und der Warschauer Vertrag bestanden, wurden die sprengenden, zentrifugalen Kräfte innerhalb der NATO von einem alles andere überragenden Sicherheitsbedürfnis der bürgerlichen Regierungen gegen die angebliche kommunistische Bedrohung aus dem Osten zusammengehalten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Klammer der »kommunistischen Bedrohung« weggefallen, während die zentrifugalen Kräfte in der NATO weiter wirkten und wirken; siehe z. B. die derzeitigen Querelen u. a. in Form der angedrohten »Bananen- und Hormonfleischkriege« zwischen EU und USA, der von Washington angedrohten Sanktionen im Zusammenhang mit der von den USA geforderten extraterritorialen Wirkung ihrer Gesetze, was z. B. auf die Unterbindung der EU-Investitionen im Iran abzielt, oder die unterschiedliche Einschätzung und Interessenlage bezüglich des Iraks, die Befürchtung führender Finanzspezialisten in den USA, daß der Euro langfristig dem US-Dollar den Rang ablaufen könnte und dies zu wirklich ernsten Spannungen (sogar vom Krieg wird gesprochen) zwischen den USA und der EU führen könnte, usw.

Zentrifugal wirken auch die eher »bodenständigen« nationalen Kapitalinteressen (Industriezweige, die weniger globalisiert sind oder in dieser Entwicklung sogar eine Bedrohung sehen). Das alles wird auf beiden Seiten des Atlantik überlagert von regionalen, kulturellen und anderen, historisch bedingten nationalen Sonderinteressen mit der Tendenz, die Kluft in der atlantischen Wertegemeinschaft zu vertiefen. In der ersten Februarwoche 1999 beschrieb z. B. der französische Außenminister Hubert Vedrine in einem Interview die amerikanische Dominanz und charakterisierte die Vereinigten Staaten als »Hypermacht«, deren Machtmißbrauch durch die Zusammenarbeit aller anderen Staaten eingedämmt werden müßte. Ein Veteran unter den amerikanischen Europa-Korrespondenten, John Vinocur, räumte dazu ein, daß diese französische Klage möglicherweise legitim ist, »denn zum Ende dieses Jahrhunderts haben die Amerikaner für das Wohl der übrigen Welt viel zuviel Macht«.

Ein Ersatz für die Klammer der »kommunistischen Bedrohung«, die die zentrifugalen Kräfte in der NATO dauerhaft neutralisieren könnte, ist noch nicht gefunden. Das größte Interesse an der Fortexistenz einer starken und vitalen NATO hat unzweifelhaft das international operierende Kapital, vornweg das mächtige Finanzkapital, das ohnehin kaum noch nationale Grenzen kennt, aber auch der globalisierte Teil des Industriekapitals, besonders die multinationalen Konzerne. Das neue Strategische Konzept der NATO, das in diesem Monat in Washington anläßlich der 50-Jahresfeier der Gründung der NATO abgesegnet werden soll, entspricht denn auch ganz und gar den Bedürfnissen und Wirtschaftsinteressen der multinationalen global Players in den USA und Europa.

Zweiter Persischer Golf

Im Rahmen ihres neuen Konzepts will die von den Vereinigten Statten geführte NATO kraft eigener Verfügung (Selbstmandatierung) zum obersten Wachmann einer vom Völkerrecht abgehobenen, nur noch den Gesetzen der Globalisierung verpflichteten Staatengemeinschaft werden. Der Artikel 5 der NATO-Charta wird deshalb am 28. April in Washington dahingehend geändert werden, daß statt der Verteidigung der territorialen Grenzen der Mitgliedsländer in Zukunft deren »Sicherheitsinteresen« verteidigt werden sollen, und zwar weltweit. Am Beispiel des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen Jugoslawien bekommt man einen Vorgeschmack dafür, wie dehnbar dieser Begriff der Sicherheitsinteressen ist und wie die Souveränitätsrechte anderer Länder in Zukunft relativiert werden. Probleme hat man scheinbar damit nicht, denn im Zeitalter der Globalisierung ist die nationale Souveränität ohnehin eingeschränkt (sinngemäß zitiert nach General Naumann, ranghöchster deutscher Militär bei der NATO).

Daß die Neue NATO ihre »stabilisierende« militärische Machtprojektion hauptsächlich gen Osten bis in den eurasischen Raum richten soll, entspricht der Interessenlage des internationalisierten Kapitals. Im Osten gibt es erhebliche unangezapfte Marktpotentiale, eine große, relativ gut ausgebildete Arbeiterschaft und erstaunlich niedrige Löhne. Außerdem gibt es Rohstoffe aller Art. Besonders unter dem Kaspischen Meer lagern strategisch wichtige, riesige Ölvorkommen. Man spricht in Fachkreisen von einem zweiten Persischen Golf. Konsequent hat denn auch die Regierung in Washington diesen Teil der ehemaligen Sowjetunion als »Gebiet von vitalem Interesse« für sich reklamiert. US-Energie-Konzerne haben Investitionen in der Region in zig Milliarden Dollar Höhe geplant. Aber große politische Probleme in der Region verhindern seit Jahren deren Realisierung.

Auf der Jagd nach neuen, lukrativen Verwertungsmöglichkeiten wird das internationale Kapital seit Jahren vom Osten angezogen. Voraussetzung für die Realisierung dieses Potentials ist politische Stabilität, die die NATO im Rahmen ihre »neuen Rolle« schaffen soll. Die Definition der neuen NATO-Rolle war ein langwieriger und schwieriger Prozeß, der Anfang der 90er Jahre selbst in Brüssel mit manchen Selbstzweifeln bezüglich der weiteren Existenzberechtigung der Allianz behaftet war.

Auch innerhalb der NATO-Mitgliedsländer war man sich lange nicht über eine neue Rolle der Brüsseler Allianz einig. Aus unterschiedlichsten Gründen stimmte man jedoch im wichtigsten Punkt von Anfang an überein, daß nämlich die NATO auf jeden Fall erhalten bleiben müßte. Die kleineren NATO-Mitgliedsländer fühlten sich z. B. sicherer, wenn Deutschland weiterhin in die NATO voll eingebunden war, erst recht das vereinte, größere Deutschland. Nur die NATO garantiert als Organisation den USA die führende politische und militärische Rolle in Europa, auf die das hegemoniale Washington weiterhin pocht. Als Garant für eine neoliberale kapitalistische Wirtschaftsordnung in Europa wird die weitere Anwesenheit und Führungsrolle der USA in Europa aber auch von europäischer Seite gewünscht: von den geschäftsführenden Ausschüssen des Kapitals in Form der Regierungen der Mitgliedsländer. An die gebetsmühlenhaften Wiederholungen, daß auch nach dem Ende des Kalten Krieges die amerikanische Militärpräsenz in Europa unabdingbar für die zukünftige Sicherheit der transatlantischen Wertegemeinschaft sei, erinnert sich jeder. Warum das auch im Interesse der Lohnabhängigen sein soll, hat allerdings noch niemand erklärt.

Da die NATO auf jeden Fall erhalten werden mußte, ließ sich schließlich auch eine neue Aufgabe als Rechtfertigung für ihre Fortexistenz finden. Und, das muß man anerkennen, die Lösung war sehr elegant. In ihr wurden sowohl die Bedürfnisse der Öffentlichkeit für »in Zukunft friedliche Konfliktlösungen« als auch die Bedürfnisse des Großkapitals für eine »stabilisierende Machtprojektion« in den »wilden Osten« bedient. Als »Friedenserhalter« und später als »Friedenserzwinger« in Bosnien hatte sich die NATO zunächst erfolgreich der UNO angedient und Punkte für ihre internationale Glaubhaftigkeit gesammelt. Und mit dem Programm der »Partnerschaft für den Frieden« dehnte die NATO ihren Einflußbereich nicht nur auf das gesamte Osteuropa, sondern auch auf alle Länder der ehemaligen Sowjetunion aus. Und mit dem Zuckerbrot von immer neuen Krediten und der Peitsche von Wirtschaftsboykottdrohungen brachte man auch das geschwächte, aber widerspenstige Moskau dazu, sich dieser NATO-Strategie zu fügen, wenn auch mürrisch und mißmutig.

Doch im Laufe der letzten Jahre sind die Vereinigten Staaten und mit ihr die NATO zu selbstsicher, ja geradezu selbstherrlich geworden. Mit ihren vollmundigen Drohungen und ihrem leichtfertig vom Zaun gebrochenen Krieg, ohne politisches Konzept, haben maßgeblich Präsident Clinton, Premierminister Blair, Kanzler Schröder und ihr Lakei in Brüssel, Solana, die Glaubhaftigkeit ihres Aggressionsbündnisses insgesamt auf den Prüfstand gestellt.

Samuel Berger, der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, nannte denn auch in der »Washington Post« »die Demonstration, daß die NATO es ernst meint«, als einen der Hauptgründe für die Bombardierung Serbiens. Untätigkeit hätte der Glaubwürdigkeit der NATO (Foto: NATO-Spuren in Aleksinac – NATO-Kommentar: »Die Opfer sind sehr bedauerlich«) schwer geschadet, meinte ein namentlich nicht genannter europäischer NATO- Diplomat.

Grüne Tarnkappenbomber

Zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung für den Krieg beschwor Präsident Clinton in seiner Rede an die Nation das Bild von »Kindern im Visier der serbischen Scharfschützen«. Am Rande der Rede bemerkte jedoch einer seiner außenpolitischen Berater, daß »es überall auf der Welt schlimme Blutbäder« gibt, »in die wir uns nicht einmischen«. Der einzige Unterschied liege darin, daß das Kosovo im Herzen Europas liegt. »Meiner Meinung nach«, so der Präsidentenberater, »steht allerdings hier die Zukunft der NATO selbst auf dem Spiel, denn wenn sie sich als unfähig erweist, mit einer schlimmen Bedrohung mitten in Europa fertig zu werden, dann verliert die NATO ihre Daseinsberechtigung«. Darum geht’s und nicht um irgendwelche humanitären Operationen.

Allerdings hat die europäische Linke nach wie vor Schwierigkeiten, die Intentionen der NATO auf dem Balkan zu durchschauen. In Bosnien und im Kosovo, so wird argumentiert, gibt’s kein Öl und keine anderen nennenswerten Bodenschätze oder Märkte, für die es sich zu kämpfen lohnen würde. Folglich ist man verwirrt und geneigt zu glauben, daß sich die NATO tatsächlich zum Schutz der Menschenrechte in der Region engagiert. Konsequent unterstützen denn auch in Deutschland die grünen Tarnkappenbomber den angeblich »guten Krieg« der NATO-Menschenrechtskrieger gegen Serbien.

In Wirklichkeit aber geht es der NATO und den Kräften, die hinter ihr stehen, wie eh und je um brutale Machtpolitik, die diesmal allerdings unter dem Mantel humanitärer Operationen daherkommt.

Fast 3 000 kurdische Dörfer wurden durch türkische Soldaten zerstört, die Bewohner vertrieben oder ermordet. Im Kosovo gibt es 1 600 albanische Dörfer, von denen bis zum ersten NATO-Bombenabwurf auf Serbien die meisten unversehrt waren. Deutschland und die NATO liefern der türkischen Regierung in Ankara weiterhin Waffen, aber sie bombardieren Belgrad. Auf diesen Widerspruch angesprochen, erklären die Vertreter der atlantischen Aggressionsgemeinschaft, daß die Interessenlage anders und nicht zu vergleichen sei. Deutlicher geht’s nicht.

Happy Birthday, NATO?

Auf dem Spiel stehen die Zukunft der NATO und damit ihre Möglichkeiten zur militärischen Untermauerung der neuen Weltordnung im Rahmen des neuen strategischen Konzeptes der Pax Americana.

»Es geht um die globale Zukunft«, kommentierte die »Washington Post« am 29. März 1999. Und die »New York Times« vom selben Tag: »Durch den Luftkrieg gegen Jugoslawien wird nun endlich geklärt, was in jahrelangen abstrakten Debatten nicht möglich war, nämlich welche Rolle die NATO in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges spielen wird.« Allerdings verkennt man auch in den USA nicht die fatalen Konsequenzen eines Mißerfolges im Kosovo: »Ein vermasselter Einsatz könnte das Bestreben ernsthaft gefährden, für die NATO eine neue Rolle bei Friedenserhaltung und Krisenmanagement zu formulieren.« (Der Washingtoner Journalist R. W. Apple Jr. in der New York Times)

Genau diese Rolle hofft Präsident Clinton definitiv zur 50. NATO-Geburtstagsfeier im Rahmen des »Neuen Strategischen Konzeptes« Ende diese Monats in Washington zu erfüllen. Die Redenschreiber der Allianz können aber heute schon die Entwürfe ihrer Glückwunschschreiben in den Reißwolf stecken. Denn im Krieg gegen Serbien hat sich die NATO selbst in eine Falle manövriert, aus der sie ohne Gesichts- und Prestigeverlust kaum noch freikommen wird.

Hier ist nicht der Platz, um im einzelnen auf die Fehler der vereinfachten NATO-Strategie einzugehen. Aber die offiziell erklärte Politik, daß Präsident Milosevic nur die Sprache der Gewalt verstehe und deshalb einige Tage Luftkrieg genügen würden, um ihn in die Knie zu zwingen, hatte allenfalls Bild-Zeitungsniveau. Dabei hätte von Anfang an klar sein müssen, daß man zwar die Serben verfluchen, bombardieren und töten kann, aber ohne sie, und erst recht gegen sie, kann man auf dem Balkan keinen dauerhaften Frieden schaffen.

Krieg als Computerspiel

Der offiziell erklärte Zweck des NATO-Luftkrieges gegen Serbien war zu verhindern, daß eine humanitäre Krise sich zu einer humanitären Katastrophe entwickelt und daß die Instabilität, die vom Kosovo ausgeht, nicht auf die angrenzenden Regionen übergreift. Die Eingriffe der NATO hatten gerade den gegenteiligen Effekt, was nur zögerlich von einer scheinbar überraschten NATO-Führung eingestanden wird. Damit habe man nicht gerechnet. Hat etwa die Computersimulation des Luftkrieges die Reaktion der Serben auf dem Boden nicht richtig vorhergesagt? Wo bleibt da der vernünftige Menschenverstand, der besagt, daß Kriege eine schwer kontrollierbare Eigendynamik entfalten.

»Wenn das Blutvergießen aufhören und zivilisierte Verhaltensregeln zurückkehren sollen und die NATO als glaubhafte Organisation überleben will, dann muß sie aus dieser Kette von Ereignissen ausbrechen«, schrieb der langjährige NATO-Beobachter und ehemalige hohe britische Generalstabsoffizier Frederick Bonnart aus Brüssel am 31. März 1999 in der »International Herald Tribune«. »Die NATO hat die Wahl zwischen einem totalen Krieg gegen Serbien oder der Suche nach einer neuen politischen Lösung.«

Was auch immer passieren wird, das Ansehen und die Glaubhaftigkeit der NATO sind schon jetzt international nachhaltig geschädigt. Die Aggression gegen Serbien hat nicht nur die UNO und das Völkerrecht untergraben, sondern der Luftkrieg und die Art seiner Führung sind eindeutig ein Fehlschlag, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens wurden die unmittelbar gesteckten Ziele nicht erreicht, wofür nun – ähnliches kennen wir aus der Geschichte – das schlechte Wetter verantwortlich gemacht wird. Zweitens basierte der Luftkrieg auf einer totalen Fehlkalkulation der politischen Reaktion des serbischen Gegners, und drittens wurde als Resultat des Luftkriegs gerade das Gegenteil des Erstrebten erreicht. Ein Versagen auf der ganzen Linie, das spätestens dann selbst in das Bewußtsein der meinungsmanipulierten heimischen Öffentlichkeit dringen wird, wenn die Faszination, die von dem hochtechnologischen fliegenden Mordwerkzeug ausgeht, verflogen ist.

Die Erkenntnis des Versagens der NATO wird jedoch früher einsetzen: Wenn die Führung der selbsternannten »größten Friedensorganisation der Geschichte« in Brüssel den Moment der Wahrheit hinauszögert und ihr Heil in einem Bodenkrieg gegen Serbien sucht. Anders als der Luftkrieg, der mit Abstandswaffen wie ein Computerspiel geführt wird und auf NATO-Seite bisher keine Opfer forderte, wird der Bodenkrieg auch in den NATO-Ländern viele Witwen und Waisen hervorbringen.

Und sofort taucht hier die Frage auf, welche NATO- Regierung bereit ist, sich auf diesen auch innenpolitisch höchst riskanten Kurs einzulassen. Scheut auch nur ein wichtiges Land vor der »Lastenteilung« zurück, wird der Zusammenhalt der NATO auf die wohl ernsteste Probe seit ihrer Gründung gestellt.

Bliebe die andere Variante: Die Suche nach einer neuen politischen Lösung. Auch hier scheinen die Aussichten für die NATO, ohne Gesichtsverlust aus dem Dilemma herauszukommen, nicht gut. Als Vermittler in dem Konflikt zwischen Kosovo-Albanern, UCK-Terroristen und Belgrad scheidet die NATO als Partei aus. Moskau könnte allerdings die Serben an den Verhandlungstisch bringen. Aber welch ein Prestigeverlust wäre das für die NATO? Sie hätte einen Krieg angefangen und wäre unfähig, ihn zu beenden, benötigte nun die guten Dienste Moskaus, das sie doch eigentlich mit der ganzen Aktion, besonders mit Blick auf den eurasischen Osten, an die Wand spielen wollte. Für die NATO wäre das ein weithin sichtbares falsches Signal, daß nämlich ohne Moskau in dieser Region doch nichts geht. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, daß Gerhard Schröder in Konsultation mit der NATO den russischen Premierminister Primakow hat abblitzen lassen, als er eine zaghafte Verhandlungsofferte von Präsident Milosevic anbot.

Noch mehr Sturm

Die gleiche Behandlung erfuhr der Vorstoß der griechischen und der italienischen Regierung innerhalb der NATO, während der Ostertage eine Bombenpause einzulegen und die für Verhandlungen zu nutzen. Mit den Worten: »Dies wäre zutiefst inhuman«, lehnte General Klaus Naumann, Chef des Militärkomitees den NATO den Vorschlag ab, denn es würde Präsident Milosevic freie Hand bei der angeblichen ethnischen Säuberung des Kosovo geben.

Als dritte Möglichkeit bliebe der NATO, sich bei erstbester Gelegenheit als »Sieger« zu erklären und sich dezent und ohne viel öffentliches Aufhebens zurückzuziehen. Aber auch dann wäre ein nachhaltiger Gesichtsverlust nicht zu vermeiden. Wie auch immer, die NATO sitzt in der selbst gestellten Kosovo-Falle. Wenn die Führung klug ist, dann wird sie versuchen, den menschlichen und politischen Schaden – verbunden mit neuen Verhandlungslösungen – zu begrenzen. »Maßgebende Politiker in der zivilen NATO- Führung betonen jedoch, daß dies einem Eingeständnis gleich käme, daß die Bombenstrategie … von Grund auf falsch war. Und das wiederum würde bedeuten, daß die mächtigste Militärallianz der Welt mit der mächtigsten Luftwaffe der Welt unfähig ist, einen autoritären Führer eines kleinen Balkanlandes … in die Knie zu zwingen«, schrieb der Veteran unter den amerikanischen Berichterstattern, Craig Whitney, am 1. April aus Brüssel für die New York Times.

So stehen leider die Zeichen auf noch mehr Sturm. Angefeuert von einer blutdürstigen Medienkampagne, die sie selbst zu verantworten haben, scheinen die NATO-Politiker vermehrt bereit, sich den »Sachzwängen« der militärischen Eskalation zu beugen, was einen langen, blutigen Bodenkrieg zur Folge haben wird.

Die NATO hat unter Beweis gestellt, daß sie als Krisenmanager in Europa total unfähig ist. Das Neue Strategische Konzept wird deshalb Makulatur bleiben, mögen die »Friedens«-Reden zum 50. Geburtstag der NATO am 23. April in Washington auch noch so sehr von Eigenlob triefen. Zugleich wird der aus einem Bodenkrieg resultierende Streß den Zusammenhalt der NATO auf eine harte Probe stellen und die ohnehin vorhandenen zentrifugalen Kräfte im Bündnis verstärken. Es wird eine harte Kraftprobe für das international orientierte Kapital werden. Und es könnte den Anfang vom Ende der NATO ankündigen.