Anno ’97: Das Jahr der NATO-Ost-Erweiterung
von Rainer Rupp
erschienen am 31.12.1997 in der Jungen Welt
Bezeichnend für die Entwicklung der NATO im letzten Jahr ist die Aussage von US-Außenministerin Albright Mitte Oktober vor dem Senatsauschuß für Auswärtige Beziehungen bei der Anhörung über die NATO-Ost-Expansion. Beim Versuch, dem skeptischen Ausschußvorsitzenden Jesse Helms eine strategische und sicherheitspolitische Rechtfertigung für die Ost-Expansion zu liefern, trug Frau Albright, unterstützt vom einflußreichen Senator Lugar, ganz unverkrampft das Konzept der »globalen NATO« vor, die überall auf der Welt amerikanische und europäische Interessen durchsetzen würde. Kaum anzunehmen, daß Frau Albright dabei die Interessen amerikanischer und europäischer Arbeiter im Auge hatte.
Aber die Vertreter des Großkapitals dürften sich ob solcher politischer Weitsicht gefreut haben. Alarmiert riet jedoch die liberale New York Times von derlei Expansionsgelüsten ab, würde doch deren Verwirklichung »tektonische Verschiebungen« in den internationalen Beziehungen bedeuten, die »eine Neuverhandlung der gesamten NATO- Charta voraussetzen würde«.
Der Alarmruf verhallte weitgehend unbeachtet in der friedenspolitischen Wüste, die sich in den letzten Jahren besonders in Europa ausgebreitet hat. Dort, in Brüssel, verabschiedeten die NATO-Verteidigungsminister Anfang Dezember ein Programm, das den Weg zur globalen NATO weiter ebnete. Da für die territorialen Grenzen des Bündnisses so gut wie keine Bedrohung mehr besteht, präsentierte man stolz das Konzept einer auf die »Anforderungen des 21. Jahrhunderts zugeschnitteten Militärstruktur«, die schnell und flexibel auf »regionale Konflikte« außerhalb des traditionellen NATO-Bereiches reagieren kann, wobei man besonders friedenserhaltende Aufträge und Bedrohungen durch Schurkenstaaten hervorhob. Selbst ein Schurke, wer Böses dabei denkt.
NATO à la carte
»Flexibel« heißt dabei im NATO-Jargon, daß diese out-of-area-Aktionen nicht von allen NATO-Mitgliedern mitgetragen werden müssen. Vielmehr können sich – je nach Interessenslage – NATO-Staaten à la carte zu Militäraktionen zusammenfinden und sie unter der NATO-Flagge durchführen. Auf Grund der mangelnden europäischen Kapazitäten auf Gebieten wie Logistik und Fernaufklärung dürften solche Aktionen jedoch ohne amerikanische Beteiligung so gut wie unmöglich sein. Außerdem verlangt die Erlangung der Fähigkeit für solche Einsätze fern der Heimat von den Europäern umfangreiche militärische Modernisierung und die Beschaffung neuer Waffensysteme. Das ist teuer, und deshalb gibt es innerhalb der NATO besonders seitens der kleineren Mitgliedsstaaten Widerstände. Nicht jedoch in Deutschland.
Unbehindert von kritischen Fragen sind hierzulande die Vorbereitungen für die globale NATO längst angelaufen. Und Verteidigungsminister Rühe versprach unlängst seinen Soldaten, daß sie beim nächsten Golfkrieg dabei sein würden. Ganz soweit ist die SPD noch nicht, aber sie ist auf dem Weg dahin. Auf ihrem Parteitag in Hannover unterstrich Verheugen, daß in der sozialdemokratischen Sicherheitspolitik nicht mehr friedenspolitische Ziele, sondern der Beitrag zur Gestaltung der Weltwirtschaft im Vordergrund stehen.
Wenn auch ein Golfkrieg für die SPD noch nicht in Frage kommt, wie wär’s dann mit einer »friedensschaffenden« Mission in der Region ums Kaspische Meer? Dort liegen die drittgrößten Ölreserven der Welt, um die die internationalen Konzerne in einer politisch höchst instabilen Region wetteifern. Auch deutsches Kapital ist beteiligt. Und die weltweite Sicherung von Rohstoffen und deutschen Interessen steht schließlich als Auftrag im Bundeswehrweißbuch, das sich bald fugenlos ins neue NATO-Konzept einpassen wird.
Auf dem Weg zur globalen NATO ist jedoch noch ein größeres Hindernis mit Namen Bosnien zu überwinden. Mit dem Dayton-Abkommen und den NATO-Truppen will sich der Konflikt dort partout nicht lösen lassen. Und die Amerikaner haben sich in eine Zwickmühle manövriert. Einerseits wollen sie nicht tiefer in den Konflikt hineingezogen werden, zumal es dort weder Öl noch bedeutende Märkte zu »verteidigen« gibt. Andererseits wird die Rolle, die die NATO in Bosnien spielt, gerne als Beispiel für die Art gemeinsamer friedensschaffender Militäroperationen zitiert, für die sich die NATO innerhalb und außerhalb Europas nun vorbereitet. Aber wie kann man die NATO-Expansion politisch verkaufen, wenn die Allianz nicht einmal dazu fähig ist, im kleinen Bosnien dauerhaft Frieden zu schaffen. Eins ist nämlich sicher: Sobald die SFOR- Truppen abziehen, werden die Kämpfe wieder aufflammen.
Als Ausweg aus dem Dilemma versucht die Clinton- Regierung nun eine gemischte Strategie: Einerseits teilweiser Rückzug amerikanischer Truppen, wobei die Europäer dazu gebracht werden sollen, sich stärker in Bosnien zu engagieren. Zugleich soll bei der Durchsetzung des Dayton- Abkommens eine schärfere Gangart eingeführt werden. Der neue NATO-Oberbefehlshaber, General Wesley Clark, hat bereits erklärt, daß er »keine Angst vor Mission creep« (der schleichenden Auftragsausweitung) hat, um die »Mauer des serbischen Widerstandes zu brechen«.
Die NATO-Truppen sind aber bisher nur deshalb vor Guerilla-Angriffen verschont geblieben, weil sie sich im ethnischen Konflikt weitgehend neutral verhalten und jegliche Ausdehnung auf Polizeiaufgaben vermieden haben. Wenn jetzt jedoch in Bosnien mit militärischen Mitteln und unter Zeitdruck versucht werden sollte, einen »Friedenserfolg« zu erzwingen, könnten sich schnell ganz neue Gefahrensituationen auch für die deutschen Soldaten in Bosnien ergeben, Guerilla-Kämpfe in Bosnien gegen NATO- Soldaten könnten jedoch die Expansionspläne der NATO, die weit über Polen, Tschechien und Ungarn hinausgehen, zunichte machen. Das Konzept der globalen NATO wäre in Gefahr.
Schöne neue Welt
Jesse Helms und weitere wichtige Senatoren hatten ihre Zustimmung zur NATO-Ostexpansion von der stärkeren Lastenübernahme durch die Europäer abhängig gemacht; nicht nur in Bosnien, sondern auch bei den Kosten der Expansion. Letzteres sollte jedoch keine ernsthafte Bedrohung für die Ost-Pläne der NATO werden, denn flugs und zeitig zum Ministertreffen im Dezember legten die NATO-Rechenkünstler ein neues Zahlenwerk auf den Tisch, das die Expansionskosten auf wundersame Weise so niedrig ansetzt, daß sie quasi aus der Porto-Kasse bezahlt werden können; statt mehrerer Milliarden Dollar jährlich nun nur noch 130 Millionen. Alle freuten sich über diese elegante Lösung des Problems, das nun einer Ratifizierung und möglichen Bedenken vor dem Hintergrund des angeblich unabdingbaren Sparzwangs bei sozialen Ausgaben nicht mehr im Wege steht. Die »überraschende Entdeckung« neuer Kostenfaktoren wird später kommen, wenn die Weichen bereits gestellt sind und sich die Bevölkerung den »Sachzwängen« für den Aufbau der globalen NATO beugen muß.