Baltische NATO-Sorgen
von Rainer Rupp
erschienen am 29.07.1999 in der Jungen Welt
Rußland versucht, NATO-Beitritt seiner Nachbarländer zu erschweren
Mit einem technischen Kunstgriff versucht Rußland, den Beitritt Litauens zur NATO zu blockieren. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur BSN hat Sergej Baburin, der stellvertretende Vorsitzende der russischen Duma (Parlament), geschworen, alles zu tun, um den Rahmenvertrag zur Grenzregelung zwischen Rußland und Litauen zu blockieren. »Ich tue alles, damit diese Vereinbarungen nicht ratifiziert werden«, sagte Baburin. Er fügte hinzu: »Das gesamte Grenzabkommen muß vor dem Hintergrund der zukünftigen russisch-litauischen Beziehungen gesehen werden. Das Fehlen eines Grenzvertrags stellt ein bedeutendes Hindernis für den litauischen Eintritt in die NATO dar. Es könnte nur die Tat eines Irren oder eines Verräters sein, für Litauen dieses Hindernis auf dem Weg in den westlichen Militärblock zu beseitigen.«
Warnungen von Alexej Zotikow, der in der Duma für parlamentarische Beziehungen mit Litauen verantwortlich ist, zielen in die gleiche Richtung: »Sollten in Litauen besondere pro- NATO-Aktivitäten stattfinden, dann wird das die Ratifizierung des Grenzvertrages komplizieren«, zitiert BSN Zotikow. Diese russische Verknüpfung des von Litauen angestrebten NATO- Beitritts mit dem russisch-litauischen Grenzvertrag, der strittige Gebietsansprüche auf beiden Seiten beilegen soll, war zu erwarten. Er wird die ohnehin bereits vorhandenen NATO-Beitrittssorgen der baltischen Staaten weiter vergrößeren.
Der Präsident Lettlands, Guntis Ulmanis, hatte sich am 11. Mai besorgt über die wahrscheinlichen Verzögerungen bei der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO geäußert. Dies ist das Resultat dreier Entwicklungen: 1) das verschlechterte Verhältnis zwischen der NATO und Rußland seit dem NATO- Angriff auf Jugoslawien; 2) die Tatsache, daß aufgrund des Kosovo-Krieges sich jetzt andere Staaten vor den baltischen Ländern in der Warteschlange für NATO-Mitgliedschaft tummeln, und 3) das Bedürfnis der NATO, vor einer weiteren Expansion erst einige interne Probleme zu lösen.
Folglich sorgen sich die baltischen Staaten, daß nach Beilegung des Kosovo-Konfliktes die NATO vorrangig mit Problemen wie z. B. der Überarbeitung ihrer Entscheidungsstruktur beschäftigt ist. Auch die Neueinschätzung der umdefinierten Aufgabenstellung der NATO steht auf der Tagesordnung. Denn das im April in Washington abgesegnete »Neue Strategische Konzept« der NATO ist durch deren Angriff gegen Jugoslawien bereits in die Tat umgesetzt und durch das im Kosovo eingerichtete NATO- Protektorat über die ursprünglichen Ziele hinaus weiterentwickelt worden. Zusätzlich, so die Befürchtung der Balten, könnte der ganze Expansionsprozeß der NATO gen Nordosten nachhaltig verzögert werden, wenn – wie bereits von der NATO signalisiert – der Beitritt von Staaten wie Rumänien und die Slowakei, oder Mazedonien und Albanien wegen ihrer Unterstützung im Krieg gegen Jugoslawien Vorrang hat. Außerdem erkennt die baltische Führung, daß der Jugoslawien-Krieg sich sehr negativ auf das Verhältnis Rußlands zur NATO ausgewirkt hat, wodurch der ohnehin nicht unkomplizierte NATO-Beitritt der baltischen Staaten besonders prekär wird.
Aber Baburins Spekulation, daß die Nichtunterzeichnung des Grenzvertrages die NATO davon abhalten würde, Litauen als Mitglied aufzunehmen, ist sicherlich übermäßig optimistisch. Die NATO-Beitrittsbedingungen verlangen zwar von den neuen Mitgliedern, daß diese vor ihrer Aufnahme möglichst alle internen und externen Streitigkeiten beheben und insbesondere alle Grenzstreitigkeiten beilegen. Aber einer NATO, die – wie im Angriffskrieg gegen Jugoslawien gezeigt – sogar ihre eigene Charta bricht, wenn es ihr machtpolitisch opportun erscheint, ist ohnehin nicht zu trauen. Wenn es ihr nicht paßt, dann wird sie sich erst recht nicht um das Kleingedruckte in ihren Verträgen kümmern.
Allerdings ist zu erwarten, daß Rußland die baltischen Staaten in nächster Zeit auf seine Weise daran erinnert, daß eine Mitgliedschaft in der NATO als ein feindlicher Akt gilt und eine angemessene Antwort darauf vorbereiten wird. Vor dem Hintergrund der jüngsten Kosovo-Erfahrungen mit der Nordatlantischen Allianz dürfte Rußland alles in seiner Macht Stehende tut, um jeden neuen Schritt, den die baltischen Staaten in Richtung NATO gehen, kostspieliger als den vorangehenden werden zu lassen. In diesem Zusammenhang hatte BNS auch berichtet, daß Rußland einen totalen Wirtschaftsboykott gegen Lettland vorbereitet. Damit wolle Moskau seinen Protest gegen das neue Sprachgesetz unterstreichen, mit dem Lettland seine russisch- stämmigen Bürger, die ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell diskriminiert. Auch die Europäische Union hatte das lettische Parlament eindringlich vor der Annahme dieses radikal-nationalistischen Gesetzes gewarnt. Jedoch ohne Erfolg und ohne Folgen, denn die Gespräche für den EU-Beitritt sind dadurch nicht ernsthaft gefährdet worden.
Die Spekulation Baburins wird sicherlich nicht aufgehen. Die NATO wird sich wegen juristischer Finessen nicht von ihren geostrategischen Zielen abhalten lassen. Von viel entscheidenderem Einfluß über die zukünftige NATO- Mitgliedschaft der baltischen Staaten wird sein, ob Moskau überhaupt dazu fähig ist, ein effektives Wirtschaftsembargo gegen Lettland durchzusetzen, zweitens, welche politischen und wirtschaftlichen Folgen das für Lettland haben wird und, drittens, welche Hilfe der Westen leisten und welchen möglichen Gegendruck die NATO mobilisieren wird. Das baltische Hinterland besteht ausschließlich aus Rußland. Ohne Handel mit Rußland ist die baltische Wirtschaft kaum überlebensfähig. Rußland kann zwar die NATO nicht davor abhalten, die drei baltischen Staaten aufzunehmen, aber es kann sicherstellen, daß dies für die NATO wirtschaftlich so teuer wie möglich wird.