Bankrott befürchtet – Kampf bis zum totalen Sieg
von Rainer Rupp
erschienen am 31.05.1999 und 01.06.1999 in der Jungen Welt
US-Konservative kritisieren Clintons Kriegspolitik
Interviews der »New York Times« mit einem Dutzend höherer NATO- Beamter und Diplomaten in Brüssel brachten zutage, was die interessierte Öffentlichkeit schon längst weiß. So berichtete die renommierte US-Zeitung am 25. Mai, daß hinter der am NATO- Hauptquartier zur Schau getragenen optimistischen Fassade große Angst herrscht. Die jovialen Kriegsherren in Brüssel befürchten nämlich, daß »mit jedem weiteren Tag die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Luftangriffe weiter schwindet und damit auch die Fähigkeit der NATO-Führung, die Alliierten zusammenzuhalten«. Die möglichen Bruchstellen in der Kriegsallianz werden vor dem Hintergrund der rapide sinkenden öffentlichen Zustimmung zum Krieg immer deutlicher. Deshalb sind aus Bonn und Brüssel Durchhalteparolen zu vernehmen. Die Regierung in Belgrad sei in ihrer Widerstandskraft und in ihrem Willen angeschlagen. Nur noch etwas mehr und etwas stärker bomben, dann sei es geschafft.
Die Meister der psychologischen Kriegsführung in Brüssel und Washington sind natürlich klug genug, ihrer eigenen Propaganda nicht zu glauben. Den Kriegsherren in Brüssel und in den europäischen NATO-Hauptstädten ist nicht mehr wohl in ihrer Haut. Das kann auch ein so penetrant zur Schau gestellter Optimismus nicht verbergen. Denn sie müssen sich einer zunehmend scharfen Kritik aus dem mächtigen Lager der amerikanischen Konservativen stellen, die – anders als die Kritik der Pazifisten und Linken – für sie nur schwer zu ignorieren ist.
Das konservative und Business-orientierte Amerika befürchtet nämlich durch den haarsträubenden und nicht durchdachten Balkankrieg der Clinton-Regierung einen Bankrott der NATO, der bleibende Schäden für die Politik und die globalen Interessen des amerikanischen Großkapitals nach sich ziehen wird. Die kritischsten und schärfsten Analysen und Kommentare gegen den Krieg außerhalb der arg geschrumpften sozialistischen Presse in Europa kommen daher zur Zeit aus dem konservativen Amerika, von Leuten wie Henry Kissinger, Pat Buchanan, Owen Harries und anderen.
Die NATO, das Schild und Schwert des neoliberalen Kapitalismus, das behutsam seine Globalisierung militärpolitisch absichern soll, riskiert, durch die »Pfadfinder« im Brüsseler Hauptquartier und die unglaubliche Inkompetenz der richtungsweisenden Washingtoner Außenpolitik leichtfertig geopfert zu werden. Mit wachsender Erbitterung beobachten die Veteranen der amerikanischen Außenpolitik das konzeptlose Durchbomben der Clinton-Regierung.
Kurz nachdem in der NATO die Entscheidung gefallen war, mit dem Bombenkrieg zu beginnen, verglich das einflußreiche, wirtschaftsorientierte britische Magazin The Economist die Lage der amerikanischen Regierung mit der eines Schlafwandlers. Als der aufwacht, bemerkt er, daß er sich auf dem Dachfirst befindet. Von Panik ergriffen, tut er genau das Falsche.
Mittlerweile ist die Kritik deutlicher geworden. Owen Harries ist Chefredakteur des »The National Interest«, eine amerikanische Monatsschrift, die als intellektuelle Speerspitze des amerikanischen Konservatismus gilt und entsprechend einflußreich ist. In einem am 18. Mai in der »New York Times« veröffentlichten Artikel reitet er ebenfalls eine scharfe Attacke gegen den NATO- Krieg und die Inkompetenz der Clinton-Regierung, die »in einem außenpolitisches Debakel steckt, in dem Bomben als Ersatz fürs Nachdenken eingesetzt werden«. Dies »droht, das gesamte Gebäude der amerikanischen Außenpolitik zu destabilisieren. Als Resultat sind die drei wichtigsten Komponenten dieser Politik – die NATO, die Beziehungen zwischen den USA und Rußland und die zwischen den USA und China – in ernsthafter Gefahr.« »Die Situation im Kosovo war nicht schlimmer als die in anderen Ländern, die Clinton und andere westliche Führer mit relativem Gleichmut ertragen konnten, wie z. B. in der Türkei … und Kroatien. Erst nach Beginn der NATO-Intervention verschlechterte sich die Lage im Kosovo dramatisch.« Und was die Sorge um den Erhalt der Glaubhaftigkeit der NATO betrifft, so sei »der Schaden bereits angerichtet«.
Harries betont, daß »Prestige und Glaubhaftigkeit wichtige Instrumente in der internationalen Politik sind. Richtig gepflegt und eingesetzt, können sie zu einem wirksamen Ersatz für Gewaltanwendung werden. Im Kosovo sind sie zerfleddert und verschleudert worden. Anstatt daß Prestige ein wirksamer Ersatz für Gewaltanwendung ist, wird der Einsatz von Gewalt immer öfter mit der Notwendigkeit rechtfertigt, daß es gelte, die Glaubhaftigkeit wieder herzustellen.«
»Am gefährlichsten« ist jedoch für Harries die Tatsache, »daß die abschreckende Wirkung der führenden NATO-Macht USA ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen ist. Dadurch, daß ihre alles überbietende Fähigkeit, Furcht einzuflößen, gelitten hat, werden die Vereinigten Staaten (in Zukunft) gezwungen sein, noch öfter Gewalt anzuwenden. Die Gefahren einer Fehleinschätzung werden sich vervielfachen.«
Der »Neigung zum Moralisieren« nimmt sich Harries ganz besonders scharf an: »Seien wir uns über eines klar. Falsch ist nicht der Impuls, der Außenpolitik einen moralischen Inhalt zu geben, sondern die Annahme, daß dies eine unkomplizierte Sache ist, eine Sache, die nicht der Berechnung und des Kompromisses bedarf, sondern lediglich der Reinheit der Absicht. Billige Moralisten sind genauso gefährlich wie billige Falken – oft sind es sogar dieselben Leute.«
Bemerkenswert ist auch die Analyse eines vorrangig für amerikanische multinationale Unternehmen arbeitenden, weltweit operierenden privaten US-Nachrichtendienstes, der sich auch auf politische Einschätzungen spezialisiert hat. In der am 27. Mai erschienenen Kritik werden die Mitarbeiter des außenpolitischen Teams von Clinton als Dilettanten deklariert, die laufend naive oder falsche Entscheidungen getroffen haben. Konfrontiert mit den erschreckenden Resultaten ihrer Politik, befinden sie sich nun vollkommen aufgelöst in einem Schockstadium, unfähig, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um zu retten, was zu retten ist. »Das Ganze fing mit dem Kosovo an. Sie hatten nicht erwartet, daß Milosevic Widerstand leisten würde. Ein Ergebnis dieser Entwicklung war, daß der ausgewiesene Experte der Clinton-Regierung für Jugoslawien und Milosevic, Richard Holbrooke, fast komplett von der Bildfläche verschwunden ist. Dessen Nominierung zum amerikanischen UN-Botschafter ist blockiert. Holbrookes schlechter Rat führte die Regierung in den Krieg, für den sie überhaupt nicht vorbereitet war. Aber es war die China-Politik, die der Regierung wirklich den Teppich unter den Füßen wegzog.«
Der private Nachrichtendienst ist auf Grund seiner vielschichtigen personellen Verflechtungen mit dem offiziellen Washington – die meisten seiner Mitarbeiter waren ehemalige Regierungsbeamte – bestens über die Lage in der US-Hauptstadt informiert: »Auf Grund einer unglücklichen Verkettung von Fehleinschätzungen und Dummheiten liegt die amerikanische China-Politik in Trümmern. Die Geschwindigkeit, mit der das geschah, ließ die Regierung sprachlos zurück. Dazu kommt der fast völlige Zusammenbruch der Beziehungen mit Rußland bereits zum Beginn des Krieges. Italien und Deutschland mißtrauen der amerikanischen Kompetenz und Motivation. … Albright wird sowohl in Washington als auch in anderen Hauptstädten mit zunehmender Mißachtung behandelt. … Der Verlust der Glaubhaftigkeit des Clinton-Teams nimmt geradezu atemberaubende Dimensionen an.«
Henry Kissinger, der kampf- und kriegserprobte konservative Veteran der amerikanischen Außenpolitik, ließ in der vergangenen Woche in einem mehrseitigen Artikel im US-Nachrichtenmagazin Newsweek mit seiner messerscharfen Kritik keinen Zweifel aufkommen, was er von der verpfuschten Kosovo-Politik William Clintons hält. Als Resultat sieht er die NATO selbst in Gefahr. Nicht nur, daß sie ihre »Glaubwürdigkeit« und Durchsetzungskraft gegenüber anderen Staaten verliert.
Er warnt davor, daß sich die Allianz von innen zersetzt. Er befürchtet, daß der Dilettantismus und die Inkompetenz der amerikanischen Regierung den Führungsanspruch der USA unterminieren: »Was übrig bliebe, wäre die schlechtestmögliche Lösung: Ein Europa, das sich gegenüber den USA mehr Freiheiten herausnimmt, aber mit wenig wirklichen Fähigkeiten, alleine zu handeln, und ein von Europa entfremdetes Amerika.«
Im Detail wirft er der Clinton-Regierung vor, »in den Kosovo- Konflikt geschlittert zu sein, ohne auch überhaupt nur die Auswirkungen durchdacht zu haben«. Besonders beunruhigen müsse die böse Reaktion fast aller Nationen der Welt gegen die neue NATO-Doktrin der humanitären Intervention.
Realistisch rechnet Kissinger auch die Flüchtlingswelle nicht einseitig einer angeblich systematischen serbischen Vertreibungspolitik zu: »Keine Vorsorge war getroffen worden, daß der Abnutzungskrieg eine Flut von Flüchtlingen hervorbringen würde, ganz zu schweigen von den ethnischen Säuberungen, die erst durch den Krieg beschleunigt und intensiviert wurden.«
Der olivgrüne deutsche Außenminister Joseph Fischer wird nicht müde zu beteuern, daß er alles Menschenmögliche für den Frieden getan hat, daß es zum Krieg keine andere Alternative gab, denn die Serben würden im Kosovo eine systematische Verteibungspolitik durchführen. Henry Kissinger widerspricht ihm resolut. Und fairerweise vertauscht er nicht wie Fischer Ursache und Wirkung. Er schreibt: »In jeder Phase der Kosovo-Tragödie waren andere Mischungen von Diplomatie und Gewalt möglich, wobei es jedoch nicht klar ist, ob diese je ernsthaft in Erwägung gezogen wurden. Diese Strategie, die ihre moralische Überzeugung nur aus der sicheren Höhe von 5 000 Metern zum Ausdruck bringt, und in der Folge Serbien zerstört und das Kosovo unbewohnbar macht, hat schon mehr Flüchtlinge und Tote und Verwundete produziert als jede andere denkbare Mischung von Diplomatie und Gewalt. Und was ist das für ein Humanismus, der sich vor Opfern unter seinem Militär scheut und dafür die zivilie Wirtschaft und Lebensgrundlage des Gegners für Jahrzehnte vernichtet?«
Auch andere heikle NATO-Themen, die in rot-grünen Regierungskreisen in Bonn als Tabu behandelt werden, greift Henry Kissinger mit unzweideutiger Klarheit auf: »Es war ein Fehler, von Jugoslawien, einem Land, mit dem die NATO nicht im Krieg war, zu verlangen, 30 000 Mann fremder Truppen auf seinem Territorium zu stationieren, um eine Provinz zu verwalten, die als Ursprung serbischer Unabhängigkeit emotionelle Bedeutung hatte. Es war ein Fehler, die zu erwartende serbische Ablehnung als Rechtfertigung für den Beginn des Luftkrieges zu nehmen. Rambouillet war keine Verhandlung, wie so oft behauptet, sondern ein Ultimatum.«
Besonders scharf geht Kissinger mit der US-/NATO-Strategie ins Gericht, die Präsident Milosevic und die Serben verteufelt und von einem zweiten Hitler und Konzentrationslagern spricht. Dadurch würde es unmöglich gemacht, Präsident Milosevic weiter als Verhandlungspartner zu akzeptieren. »Indem man den Krieg mit moralischen Ansprüchen rechtfertigt, die nur einen totalen Sieg zulassen, während die Mittel nur einen Kompromiß erlauben, hat sich die NATO selbst in die Falle manövriert.«
Irrsinnigerweise haben die USA und die NATO mit der von ihnen betriebenen Anklage Milosevics als Kriegsverbrecher die Strategie, die den totalen Sieg verlangt, noch kompromißloser und schärfer definiert. Mit diesem Schritt verstellen sie sich bewußt den Weg für eine Verhandlungslösung, die auf absehbare Zeit nur mit Slobodan Milosevic, dem gewählten Präsidenten Jugoslawiens, möglich ist.
Dies ist gewollt. Denn nur noch der totale Sieg der USA und der NATO über Jugoslawien wird nach dem perversen Denkmuster der Clinton-Leute und ihrer europäischen Wasserträger die »Glaubhaftigkeit« der NATO wiederherstellen. Es ist die Glaubhaftigkeit einer Terrororganisation.
Und die Glaubhaftigkeit der NATO will auch Kissinger unbedingt erhalten. Nachdem er auf vier langen Seiten in Newsweek eine vernichtende Kritik der Außenpolitik Clintons geliefert hat, wirft er in seinem Schlußwort wieder alles über den Haufen. Denn auch für Kissinger steht nun »die Glaubwürdigkeit der NATO auf dem Spiel«. Und er fährt fort: »Wir müssen durchhalten – wenn nötig mit Bodentruppen -, bis das serbische Militär das Kosovo verläßt und die Flüchtlinge zurückkommen können.«