Benzin ins Feuer gießen

Benzin ins Feuer gießen

von Rainer Rupp

erschienen am 07.10.1998 in der Jungen Welt

Der IWF: Das Problem, nicht die Lösung (Teil II/Schluß)

Nach der Peso-Krise in Mexiko, die 1995 drohte, aufsteigende Wirtschaften der Dritten Welt mit in den Abgrund zu reißen, etablierte das US-Finanzministerium ein Maßnahmenpaket, das buchstäblich Zeit kaufen sollte, um angeblich notwendige strukturelle Verbesserungen in den betroffenen Regionen nach amerikanischen Vorstellungen durchzusetzen. Dazu sollte nun der IWF als Instrument dienen, um, in der Terminologie der US-Finanzstratgen, eine »Feuerschutzwand« zu errichten, die überall auf der Welt schnell zum Einsatz kommen könnte.

In Südostasien erwies sich aber die »Feuerschutzwand« als aus Stroh gebaut. Sie ging sofort in Flammen auf. Als die Krise in Thailand ausbrach, griff sie innerhalb kurzer Zeit auf andere Länder der Region über. Die kontraproduktive Politik des IWF wirkte sich so aus, als hätte man neben die Feuerschutzwand noch Benzinfässer gestellt. Am deutlichsten wird das im Falle Indonesiens, dessen Wirtschaft vollständig zusammengebrochen ist. Auf Grund des dramatischen Währungsverfalls ist der riesige Berg von Auslandsschulden nicht mehr rückzahlbar. Selbst nach optimistischsten Prognosen wird das Land auf Jahre hinaus verkrüppelt bleiben, obwohl es gestern noch als blühende und aufsteigende Volkswirtschaft allseits gelobt wurde, als Beispiel für die segensbringende Wirkung des globalen Kapitalismus.

In der Zwischenzeit ist die indonesische Regierung so gut wie handlungsunfähig. Das Militär wird zur Unterdrückung sozialer und politischer Unruhen eingesetzt. Rassisten nutzten die Gunst der Stunde, um die überwiegend im Handel tätige chinesische Minorität zu verfolgen. Folge: Die Chinesen haben das Land verlassen, und der Handel ist zusammengebrochen. In den gestern noch boomenden Industriezentren standen plötzlich Millionen von Arbeitern auf der Straße, ein soziales Netz des Staates gibt es nicht. Die meisten kehren in die ländlichen Regionen zurück, aus denen sie gekommen waren. Die Landbevölkerung konnte sich aber bereits in der Vergangenheit kaum noch selbst ernähren und vertraute zunehmend auf die Überweisungen der Söhne und Töchter, die in den Industriezentren arbeiteten. Mittlerweile sind die Preise für Grundnahrungsmittel explosionsartig gestiegen. Die Internationale Gewerkschaftsorganisation (ILO) in Genf schätzt, daß in Indonesien auf Grund der Krise 80 Millionen Menschen in tiefste Armut zurückgefallen sind; Tendenz steigend und ohne Aussicht auf Besserung.

Verluste verstaatlichen

Ähnlich, aber nicht ganz so schlimm hat es die anderen asiatischen Krisenländer getroffen. Gegenüber der »International Herald Tribune« (IHT) (17. 6. 98) rechnete der Vizepräsident der Weltbank, Jean Michel Severino, für dieses Jahr mit einem Rückgang des Sozialproduktes von bis zu 15 Prozent in diesen Ländern; eine Entwicklung, die zu einer anhaltenden Depression in diesem Teil der Welt führen könnte«. Womöglich nicht nur in diesem Teil der Welt.

Inmitten des asiatischen Wirtschaftschaos ist von besonderem Interesse, daß sich gerade die Länder, die sich bisher nicht den »Erfordernissen der Globalisierung« gebeugt hatten, als Inseln der Stabilität erwiesen haben. Was ihnen von den Kapitalideologen als schwerer Fehler vorgehalten worden war, erweist sich nun vorerst als ihre Rettung, denn sie hatten ihre nationale Kontrolle über Handel und Finanzen nicht an internationale Akteure abgegeben, die niemandem außer dem eigenen Profit verantwortlich sind. So blieb z. B. Vietnam von dem Absturz der Region weitgehend verschont. Auch für dieses Jahr erwartet es ein starkes Wachstum von bis zu neun Prozent. China gilt z. Z. sogar als wahrer Hort der Stabilität, auf dessen Stehvermögen in der Krise nicht nur die südostasiatische Region hofft.

Seit Beginn der Krise haben ausländische Investoren etwa 115 Milliarden Dollar aus den fünf am stärksten betroffenen Ländern abgezogen: Indonesien, Philippinen, Südkorea, Thailand und Malaysia. Nationale Schutzmechanismen gegen eine solche Entwicklung hatten die betroffenen Länder unter dem Druck der Marktideologen bereits weitgehend abgebaut. So mußten sie hilflos zusehen, wie über Nacht ihre Börsen, Währungen, Banken und in deren Folge ihre Volkswirtschaften zugrunde gingen. Auch die über 100 Milliarden Dollar, die der IWF allerdings nur gegen strenge Auflagen zum Umbau der gewachsenen Wirtschafts- und Sozialstruktur zur Verfügung stellte, konnten die Verschärfung der Krise nicht mehr vermeiden.

Allerdings wurden die IWF-Gelder nicht zu Investitionen genutzt. Vielmehr wurden – genau wie drei Jahre zuvor in Mexiko – die privaten ausländischen Investoren damit ausgezahlt. Unter dem Druck des IWF und der führenden kapitalistischen Länder hatten die Regierungen der von der Krise betroffenen asiatischen Länder die Auslandsschulden der privaten Banken und großen Industrieunternehmen übernommen, die bis dahin von den Vertretern der lokalen Oligarchie sehr profitabel betrieben worden waren. Das alte kapitalistische Prinzip »Gewinne privatisieren, Verluste verstaatlichen« wurde in Asien gleich doppelt angewandt. Die IWF-Finanzmittel, die über den Umweg der asiatischen Regierungen in die Taschen der internationalen Investoren zurückflossen, stammen schließlich aus den Steuergeldern der Industrieländer. Dort wird aber das Steueraufkommen fast nur noch von den Lohnabhängigen aufgebracht.

Ursprünglich wurde die asiatische Krise von »Experten« als Folge der dort herrschenden Unzulänglichkeiten abgetan. Angeblich waren Korruption, Vetternwirtschaft, unzureichende Bankenkontrollen, zu starke Abhängigkeit von kurzfristigen Krediten und etliche andere Gründe daran schuld. Diese Probleme waren jedoch alle längst bekannt. Und trotzdem hatten IWF und Weltbank den betroffenen Ländern noch unmittelbar vor Ausbruch der Krise außergewöhnlich hohe Wachstumsaussichten bestätigt. »Asiatische Sünden allein können die tiefe Krise der Region nicht erklären«, stellte denn auch die IHT Mitte August fest.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Krise seither auf andere Regionen ausgebreitet hat, deutet in der Tat auf tieferliegende Gründe globaler Natur hin.

Aus den Fugen

Nach übereinstimmender Meinung droht Japan, der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, eine Depression. Seit fast einem Jahr schrumpft das Sozialprodukt. Die Börse ist auf das Niveau von vor zwölf Jahren abgestürzt. Unternehmenspleiten häufen sich. Die Japaner stehen vor dem ungewohnten Problem der Massenarbeitslosigkeit, die zudem rasch steigt. Obwohl der Leitzins auf 0,25 Prozent gefallen ist und die Preise für viele Produkte sinken, kauft und investiert niemand. Die Regierung hat sich bisher unfähig gezeigt, das Hauptproblem auch nur annähernd in den Griff zu bekommen: Die Banken tragen uneintreibbare Kredite von weit über 1 000 Milliarden DM vor sich her, einige führende Finanzhäuser sind bereits pleite gegangen. Anfang September hat die Bankrottwelle auch das erste Flaggschiff der produzierenden Industrie erreicht. Der Stahlgigant Tao-Steel ging unter – der größte industrielle Zusammenbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch andere Industriezweige sind angegriffen, so steckt z. B. der Hochtechnologieriese Hitachi in seiner bisher schwersten Finanzkrise.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Krise auch auf Rußland übergriff. Der Zusammenbruch des aberwitzigen Bankensystems war vorhersehbar. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den extrem starken Fall der Rohstoffpreise, insbesondere für Öl und Gas, die die Hauptdevisenquellen des Landes darstellen. Inflationsbereinigt ist der Weltmarktpreis für Erdöl auf das Niveau vor 1973 gefallen, d. h. heute gelten Preise wie vor der ersten Öl-Krise. Im Sog der Rubel-Krise sind auch die Kurse der Börsen und Währungen der osteuropäischen »Reformländer« dramatisch gefallen. In Warschau, Prag und Budapest, wo man sich dem Neoliberalismus weit geöffnet hatte, herrschte Panikstimmung, als innerhalb weniger Tage ausländisches Kapital in Milliarden-Dollar-Höhe abfloß.

Probleme wirtschaftlich weniger bedeutender Länder finden in der gegenwärtigen Situation kaum noch Beachtung. Anfang September reichten z. B. in Pakistan die Devisenreserven nur noch, um den Import von drei Wochen zu decken. Zugleich werden im September und Oktober Zahlungen in Höhe von 1,7 Milliarden Dollar fällig für Zinsen und Tilgung der Auslandsschuld. Ein hoffnungsloses Unterfangen ohne Beistand des IWF. Dessen Ressourcen sind jedoch schon so gut wie erschöpft. Das bekamen auch die zehn Präsidenten lateinamerikanischer Länder zu spüren, als sie am 6.September vom IWF dringende Maßnahmen verlangten, um das Übergreifen der Krise auf ihre Region abzuwenden. Die Börsenkurse in Mexiko und Brasilien sind seit dem 1. Juni dieses Jahres bereits um mehr als die Hälfte gefallen. In den anderen Ländern der Region sieht es nicht viel besser aus. Zugleich sinkt die Nachfrage nach ihren Rohstoffexporten, deren Preise ohnehin auf das niedrigste Niveau seit Jahren gefallen sind. Ihre Währungen stehen unter starkem Druck, und jeden Tag kann eine ähnliche Entwicklung wie in Asien einsetzen. In dieser Situation gab Herr Camdessus, der Chef des IWF, den zehn Präsidenten den »guten« Rat, ihre ohnehin schon hohen Zinsen noch weiter zu erhöhen. Das aber würde, die schon darniederliegenden wirtschaftlichen Aktivitäten der Region noch weiter schwächen, mit schwerwiegenden sozialen Folgen.

Angesichts der weltweit drohenden Depression hieße das, »Feuer mit Benzin zu löschen«, wie ein Kommentator am 7. September in der IHT schrieb.

Die Anzeichen mehren sich, daß das globale Wirtschafts- und Finanzsystem aus den Fugen ist. Wen wundert’s, wenn einige Länder bereits versuchen, aus dem um sich greifenden Chaos auszusteigen und dabei auch riskieren, gegen die Regeln des Systems zu verstoßen. Nachdem Premierminister Mahathir in Malaysia wieder die Kapitalkontrolle eingeführt hatte, bezeichnete dies noch am selben Tag ein hoher Beamter der US-Regierung als eine Tragödie. Gegenüber der »New York Times« (4. September) zeigte er sich überzeugt, daß in diesem Kampf zwischen »der Macht des Marktes und der Macht des Staates der Markt gewinnen wird«. Unweigerlich würde Premier Mahathirs Versuch, »Malaysia vom Weltmarkt zu isolieren, in einem spektakulären Zusammenbruch enden«. Andere neoliberale Gurus erhofften sich davon ein »gutes negatives Beispiel«. Vorerst ist jedoch das Gegenteil eingetreten. Seit Einführung der Devisen- und Kapitalkontrolle Anfang September ist die Börse in Kuala Lumpur um über 50 Prozent gestiegen.

Manager ausländischer Industrieunternehmen in Malaysia zeigen sich mit der bisherigen Entwicklung durchaus zufrieden. Zwar beklagen sie etwas mehr Papierarbeit beim Im- und Export, dafür loben sie die wiederhergestellte Stabilität und Planungssicherheit. Schon gibt es auch erste zaghafte Stimmen unter westlichen Ökonomen, daß Malaysia mit seiner »Abkehr vom freien Finanzmarkt eine vernünftige Wahl« getroffen habe, »wobei es langfristig zwar eine niedrigere Wachstumsrate in Kauf nimmt, dafür aber weniger anfällig für die negativen Effekte unkontrollierter Kapital- und Finanzbewegungen aus dem Ausland ist« (Washington Post – WP, 7. September).

Mittlerweile haben sich auch Hongkong und Taiwan durch resolute staatliche Eingriffe in das Finanzmarktgeschehen hervorgetan. Diese Entwicklungen und das »Liebäugeln mit sozialistischen Wirtschaftselementen in Rußland« sind nach Meinung des Direktors des Internationalen Wirtschaftsinstituts in Amerika, Fred Bergsten, deutliche Anzeichen für eine »Gegenbewegung zur Globalisierung. Und wir werden mehr und mehr Ereignisse dieser Art bekommen, was die Dimension der Krise sehr gefährlich macht.« (WP)

Die Party ist vorbei

Vom IWF ist kaum noch Hilfe zu erwarten, sein Ansehen hat schwer gelitten. Die Meinung der IHT vom 7. September spiegelt sich in anderen führenden Blättern. In der Krise habe sich der IWF als nutzlos erwiesen. In den meisten Ländern »hat sein steriles Festhalten an der Reinheit der neoliberalen Lehre die Lage nur verschlimmert«. Am gleichen Tag schrieb der Ökonomie-Professor James Galbraith in der WP: »Ohne zusätzliches Geld und fundamentale innere Reformen wird der Einfluß des IWF schwinden.« Ums zusätzliche Geld aber steht es schlecht.

Gegenwärtig verfügt der IWF über weniger als neun Milliarden Dollar. Für besondere Notfälle steht ihm noch ein Sonderfonds der Industrieländer von 15 Milliarden Dollar zur Verfügung. Der für Rußland dringend benötigte Mitgliedsbeitrag der USA in Höhe von 18 Milliarden Dollar steht noch aus und droht im US-Repräsentantenhaus blockiert zu werden, zumindest der größte Teil davon. Newt Gingrich, der Sprecher des Hauses, verlangte von Clinton, daß er dem Kongreß erkläre, warum dieser dem IWF 18 Milliarden Dollar geben sollte. »Wo ist das andere Geld geblieben? Wieviel von diesem Geld hat Rußland längst wieder verlassen, um auf den privaten Auslandskonten korrupter Regierungsmitglieder und ihrer Freunde zu landen?« (NYT, 4. September) Clinton jedoch hat z. Z. große Schwierigkeiten, den Kongreß überhaupt von irgend etwas zu überzeugen.

So scheint es, als ob sich unter den Gewinnern des Kalten Krieges nach der langen Siegesparty eine böse Katerstimmung breitmacht. Kürzlich warnte der Chef der amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, seine Landsleute im nach wie vor boomenden Amerika vor den Folgen der Krise: »Während im Ausland alles aus den Fugen gerät … ist es einfach nicht glaubhaft, daß die USA eine Oase der Prosperität bleiben könnten.« (WP, 7. September)