BREXIT – Versuch einer Bestandsaufnahme
von Rainer Rupp
erschienen am 16. Februar 2020 via RT deutsch
Der Inselstaat Großbritannien, der sich nie richtig der Festland-EU zugehörig fühlte, kann sich ohne das EU-Korsett von Regularien aus Brüssel in Zukunft wieder neu erfinden. Die britische Wirtschaft könnte gar „zum neuen Taktgeber Europas“ werden, warnen deutsche Ökonomen.
von Rainer Rupp
Der Brexit ist vollzogen. Aber die Briten sind nicht weg, im Gegenteil: Der Inselstaat, der sich aus nachvollziehbaren Gründen nie richtig der EU zugehörig fühlte, hat nun wieder die Chance, sich unbehindert von dem aus Handelshindernissen und Regularien bestehenden EU-Korsett in Zukunft allein auf Basis britischer Interessen neu zu erfinden. Jenseits der EU könnte die britische Wirtschaft daher „zum neuen Taktgeber Europas“ werden, meinte jetzt sogar einer der führenden Ökonomen Deutschlands.
Nach sage und schreibe 1.320 Tagen war es am 31. Januar endlich soweit, nachdem eine knappe Mehrheit der britischen Wähler zum Beginn des Sommers im Jahr 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt hatte. Es war ein schwerer Weg, begleitet von nicht enden wollendem, starkem Druck aus Brüssel und zugleich von neo-liberalen EU-Anhängern im Inland. Vor dem Hintergrund einer furchterregenden Medien-Kanonade von Hiobsbotschaften für den Fall des Brexit sollten die Briten nochmals zur Urne gezwungen werden, damit sie beim zweiten Mal „richtig“ wählen könnten – und sollten. Die Mehrzahl der Briten war jedoch fest entschlossen, den despotischen Strukturen des undemokratischen Monstrums „EU“ in Brüssel und dessen Anhängern in London ein für alle Mal den Rücken zu kehren.
Die Rechnung der Brexit-Gegner, mit Panikmache eine Mehrzahl der Briten doch noch umzustimmen, ging nicht auf. Die Briten ließen sich nicht ins Bockshorn jagen – und in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar feierten sie gemeinsam mit EU-Gegnern aus ganz Europa in London den Vollzug der Trennung. Vor allem Franzosen und Italiener, die dabei waren, erklärten, das britische Beispiel gebe ihnen Mut und Zuversicht, dass auch ein „Frexit“ oder „Italexit“ möglich ist.
Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU ist für ganz Europa eine neue Realität entstanden. Denn mit Großbritannien verlässt nicht irgendein Land diese Europäische Union. Durch den Brexit verliert die EU auf einen Schlag 13 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung und 15 Prozent ihrer Wirtschaftskraft (BIP). Das entspricht der Summe der Wirtschaftsleistung der 20 kleinsten EU-Länder zusammen. Das ist also, mit anderen Worten, als ob von den 28 EU-Ländern die 20 kleinsten gleichzeitig ausgetreten wären und die 8 „Granden“ verlassen hätten. Zugleich wird damit der erhebliche finanzielle Beitrag Großbritanniens zum EU-Haushalt wegfallen, was einen Verlust von 12 Prozent des Budgets dieser Union bedeutet.
Ohne Großbritannien ist jetzt Frankreich die einzig verbliebene Atomwaffenmacht in der EU, was den großdeutschen Ambitionen bestimmter Kreise in Berlin, Deutschland militärpolitisch zur Führungsmacht in der EU zu machen, einen Riegel vorschieben wird. Aber das ist ein Thema, auf das an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.
In der jetzt vor uns liegenden Brexit-Übergangszeit von einem Jahr, in der das Vereinigte Königreich und die EU-Regierungen immer noch weiter über die Art ihrer künftigen Beziehungen verhandeln – und womöglich über diesen Zeitraum hinaus, können sowohl die Briten als auch die EU-Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen Schäden rechnen. Deren Umfang wird jedoch davon abhängen, wie sehr etwa eingespielte Lieferketten und Geschäftsverbindungen durch neue Regularien und Zölle zumindest behindert oder womöglich ganz unterbrochen werden.
Großbritannien ist allerdings weniger abhängig von der EU als die meisten EU-Länder ihrerseits von Großbritannien. Das gilt insbesondere für Deutschland, das seit Langem viel mehr nach Großbritannien exportiert als es von dort importiert. Dagegen hat London, das sich jetzt von dem eng geschnürten EU-Handelskorsett befreit hat, bessere Möglichkeiten auszuweichen, denn es kann seine früheren, bevorzugten Handelsbeziehungen zum „Commonwealth of Nations“, allen voran nach Kanada, Australien und Neuseeland, wieder reaktivieren. Diese engeren Verflechtungen waren dem Land durch den Beitritt zur EU verloren gegangen.
Auch mit dem „Rest der Welt“ – einschließlich USA und China – kann Großbritannien nun entsprechend seinen nationalen Interessen und Präferenzen wieder Handelsverträge abschließen, und zwar ungebunden von all den Einschränkungen durch EU-Richtlinien, die unter anderem auch darauf ausgerichtet sind, insbesondere französische Landwirtschaftsprodukte vor EU-fremder Konkurrenz zu schützen. Als Nettoeffekt dieser Entwicklung ist eine Senkung des Preisniveaus für die Lebenshaltungskosten der britischen Bevölkerung zu erwarten. Für die Verbraucher im Vereinigten Königreich heißt dies nicht nur billigeres Fleisch, sondern auch weitaus niedrigere Energiekosten, denn die britische Regierung beteiligt sich auch nicht mehr an dem Wahnsinn des „Grünen Deals“ der EU.
Was viele Menschen – auch in Deutschland – nicht wissen, ist die Tatsache, dass in Fragen des internationalen Handels alle EU-Mitgliedsländer (also auch die Bundesrepublik) ihre Souveränität gänzlich an die EU-Kommission in Brüssel abgegeben haben.
Der Deutsche Bundestag hat so – etwa bei einem neuen Handelsvertrag zwischen EU und einem Drittstaat – überhaupt keinen Einfluss mehr auf den Inhalt eines Vertrages, aber andererseits sind die deutschen Bürger und Unternehmen gesetzlich verpflichtet, sich an diese Vertragsklauseln zu halten. Mit anderen Worten: Es ist der durch keinerlei demokratisches Verfahren legitimierte Apparat der EU-Kommission, also deren Beamten in Brüssel, assistiert von mehr als 6.000 Lobbyisten vor Ort, der die neuen Verträge aushandelt und neue Gesetze (Direktiven) für den internationalen Handel aller EU-Mitgliedsländer formuliert.
Der Ablauf sieht folgendermaßen aus: Die EU-Kommission verhandelt zunächst mit einem Drittstaat X über die Einzelheiten eines Vertrages im Namen aller EU-Mitglieder. Über das fertige Ergebnis muss dann der EU-Rat, bestehend aus Regierungsvertretern oder Ministern der EU-Mitgliedsländer, abstimmen. Es gibt kein Veto-Recht. Das heißt, mit einer einfachen Mehrheit im EU-Rat – selbst bei erheblichem Gegenwind – gilt der neue Handelsvertrag mit dem Drittstaat X als angenommen und damit als rechtlich verbindlich für alle EU-Mitglieder.
Mit einem Trick hatten seinerzeit EU-Kollegen der britischen Premier-Ministerin Margaret Thatcher das einstige britische Veto-Recht abgeluchst – mit dem man in London nämlich bis dahin noch erfolgsreich die speziellen Handels- und Geschäftsbeziehungen zum Commonwealth (also den ehemaligen Kolonien, Kanada, Australien und Neuseeland eingeschlossen) geschützt hatte. In den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten wurden bis zum Jahr 2016 bei insgesamt 53 neuen oder ergänzenden Handelsverträgen, welche die EU mit Ländern des ehemaligen britischen Commonwealth abgeschlossen hatte, die ausdrücklichen Wünsche der Regierung in London fortan einfach ignoriert und vom EU-Rat mit einfacher Mehrheit beschlossen.
Das hartnäckige Negieren der Handelsinteressen Großbritanniens mit seinem Commonwealth durch die EU-Bürokratie wurde so zu einer schärenden Wunde, die Londons Beziehungen zu Brüssel zunehmend vergiftete. Dieser Souveränitätsverlust war sicherlich nicht der alleinige Grund für die starke Ablehnung der EU unter Teilen der britischen Unternehmer, aber auch in der britischen Arbeiterschaft. Bei Letzterer war es vor allem der von Brüssel beförderte, massive Zustrom von Millionen gut ausgebildeten Billigarbeitern aus EU-Osteuropa über den Ärmelkanal.
Es waren die stark negativen Auswirkungen dieser Migration aus dem Osten auf die Löhne der heimischen Arbeiterschaft und damit auch das Verschwinden von Wohnungen mit bezahlbaren Mieten, das die Masse der Lohnabhängigen in Großbritannien gegen die EU aufgebracht hatte. Die Tatsache, dass die herrschende Klasse mit dieser ausgeprägten anti-EU-Stimmung der Arbeiter nicht gerechnet hat, zeigt auch, wie abgehoben von den wirtschaftlichen Realitäten der Massen die konservative Regierung unter Premier Cameron operierte, als sie aus rein taktischen, innerparteilichen Überlegungen mit einem Referendum über den Brexit abstimmen ließ. Die Zustimmung zum Brexit war für Cameron und Co. eine erschreckende Überraschung.
Das seither im Fall eines Brexit vorausgesagte ökonomische Chaos, das die Brexit-Gegner und die von ihnen beschäftigten „Experten“ und „Wirtschaftswissenschaftler“ über drei Jahre hinweg tagtäglich in allen Medien wiederholt haben, ist ausgeblieben. Ursprünglich hieß es sogar, dass allein die Diskussion über den Brexit die Märkt verunsichern, die Wirtschaft lähmen würde und die Währung abstürzen ließe. Nun ist der Brexit vollzogen und nichts davon ist geschehen. Dagegen sind somit die „Experten“ als bezahlte Panikmacher enttarnt.
Auch der Kurs der britischen Währung ist – entgegen aller Weltuntergangsszenarien – nicht in den Keller gerasselt. Seit der Schaffung klarer Verhältnisse, dass nämlich der Brexit gesichert war, hat sich ganz im Gegenteil das britische Pfund (£) gegenüber dem Euro sogar um über 10 Prozent erholt: vom Tiefpunkt des letzten Jahres, nämlich von 1£:1,06 € am 9. August, auf 1£:1,18 € am 7. Februar 2020. Kein Wunder, dass inzwischen auch in deutschen Medien hier und da Stimmen zu Wort kommen, die den Brexit als positive Entwicklung für die Briten sehen, während Deutschland in der zunehmend chaotischen EU tonangebend den Marsch in die politische Instabilität und wirtschaftliche Niedergang anführt.
„Der Inselstaat erfindet sich neu“ und habe die Chance, von außen zum neuen Taktgeber Europas zu werden, meinte dieser Tage Daniel Stelter, einer der führenden Ökonomen Deutschlands. Auch die hessische Europaministerin Lucia Puttrich warnte 7 Tage nach dem vollzogenen Brexit die demokratisch nicht legitimierten Top-Bürokraten in Brüssel, in den kommen Folgeverhandlungen mit London ihre bisher gezeigte „Überheblichkeit“ gegenüber London aufzugeben. „Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass der Brexit für Großbritannien zum Erfolg wird“, sagte die CDU-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. Brüssel habe womöglich ein größeres Interesse an einem Handelsabkommen als London.
Aber in dem Maß, wie der Brexit zum Erfolg wird, wird er zum Treibriemen des Niedergangs der EU.