Den Kapitalismus überdenken?

Den Kapitalismus überdenken?

von Rainer Rupp

erschienen am 06.09.1998 in der Jungen Welt

Der IWF: Das Problem, nicht die Lösung (Teil I)

Die tiefe Krise in Asien, der Zusammenbruch Rußlands, die Impotenz des Internationalen Währungsfonds (IWF), vom Absturz bedrohte Länder und Regionen, die ersten, schweren Einbrüche an den Börsen der kapitalistischen Metropolen, all diese Entwicklungen weisen erschreckende Parallelen auf zu der frühen Phase, die den Kollaps des Weltkapitalismus 1929/30 einleitete. Genau wie diese Entwicklung damals das Ende der Illusion von der Allmacht und Selbstregulierung der Märkte signalisierte, so sehen wir nun den Anfang vom Ende des langen Siegeszuges der Gewinner des Kalten Krieges, die glaubten, ihre neoliberale »neue Weltordnung« ungestraft durchsetzen zu können.

Die Politik – so das Credo der verblendeten neoliberalen Ideologen – muß den allmächtigen Finanzmärkten geben, was diese wollen. Und als in Asien ein Land nach dem anderen trotz boomender Wirtschaft und hoher Wachstumsraten urplötzlich im Strudel einer sich schnell verschärfenden Krise versank, formulierte der IWF die Forderungen der Kapitalideologen mit brutaler Offenheit. Entweder die betroffenen Länder machen die verlangten Zugeständnisse und werfen ihr gewachsenes Wirtschafts- und Sozialsystem über Bord, oder es gibt keine Hilfe. Durch die »schöpferische Zerstörung« der Marktkräfte würde sich alles schnell wieder von selbst richten.

»Historischer Rückschlag«

Aber schon bald sollte sich die Rezeptur des IWF als fatal erweisen: nur Zerstörung und keine Schöpfung! Die Krise vertiefte sich und breitete sich aus, griff auf andere Weltregionen über. Zugleich wuchs in Asien der Widerstand gegen die vom IWF aufgezwungene Politik angesichts der verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Ganze Industriezweige wurden schlagartig vernichtet, -zig Millionen Menschen in bitterste Armut getrieben, soziale Revolten brachen aus, gefolgt von politischen Turbulenzen. Der Preis für die vom IWF erpreßten Maßnahmen wurde vielen Ländern einfach zu hoch. Als erstes Land brach Malaysia aus dem System aus. Besorgt schrieb am 7. September die »Washington Post« (WP), daß sich in der gegenwärtigen Krise die Anzeichen mehren, daß der Vormarsch des neoliberalen Typs des Kapitalismus »einen historischen Rückschlag erlebt«.

Die Politiker der führenden kapitalistischen Wirtschaftsmächte schienen die Gefahr einer schweren Weltwirtschaftskrise lange Zeit so gut wie nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Die Banalitäten, die Präsident Clinton bei seinem Staatsbesuch in Moskau hervorbrachte und die von den übrigen Staatsmännern unisono wiederholt werden, zeigen, daß die politische Führung ihre Illusionen von den freien Märkten weiter pflegt. Aber selbst wenn sich die Erkenntnis durchsetzen sollte, daß »nur ein radikales wirtschaftliches Gegensteuern uns vor der Vertiefung der Krise bewahren kann, dürfte der politisch schwer angeschlagene US-Präsident nicht in der Lage sein, etwas zu ändern«, schrieb unlängst die WP. Und von anderer Seite dürfte kaum Hilfe kommen. Europäische Länder haben zu diesem Problem keine einheitliche Meinung, der japanische Premier ist schwach und steht selbst im Kreuzfeuer der Kritik. Ohne Amerika wird ohnehin niemand es wagen, weitreichende Veränderungen einzuführen.

Globaler Schlamassel

Aber anders als in Deutschland ist in Amerika die Presse in letzter Zeit sehr aktiv geworden, auf die anstehenden Gefahren hinzuweisen. Dabei scheint auch ein Umdenkungsprozeß einzusetzen. Noch vor einigen Monaten hätte kaum einer gewagt, den Vormarsch der »neuen Weltordnung« zu kritisieren, wollte er nicht als Spinner in die Ecke gestellt werden. Das hat sich schlagartig geändert, als wäre plötzlich ein Damm gebrochen. Allein die Titel der Leitartikel führender amerikanischer Tageszeitungen seit Anfang September sind aussagekräftig genug: »Neues Denken kann eine globale Depression verhindern«, lautete die Überschrift eines aufsehenerregenden Artikels des weltbekannten US-Ökonomen Professor Paul Krugmann vom Massachusetts Institute of Technology in der »New York Times« (NYT) vom 1. 9. Darin schreibt er, daß »das wirkliche Risiko für die Weltwirtschaft von der (herrschenden) starren Ideologie ausgeht, … die verhindern könnte, daß die Politiker (auf die Krise) überhaupt reagieren, oder, wenn sie reagieren, die falschen Entscheidungen treffen.« Mit »Globaler Schlamassel, und die Verantwortlichen scheinen nicht zu wissen, was sie tun sollen« war der Artikel des renommierten amerikanischen Wirtschaftsjournalisten Robert J. Samuelson am 2. September in der International Herald Tribune« (IHT) überschrieben. Angesichts der Krise beklagt er das vorherrschende »intellektuelle und politische Vakuum«.

»Abkehr vom Markt-Kapitalismus in Südost-Asien?« lautete ein Titel am 3. September in der IHT. Unter dem Untertitel »Herausforderung an die Orthodoxie« setzte sich am 5. September ein Leitartikel im Zentralorgan des US- Kapitalismus, dem »Wall Street Journal«, mit der ideologisch verengten Rechtsgläubigkeit der Neoliberalen auseinander.

»Finanzkrise könnte globalen Marsch des Kapitalismus stoppen«, titelte die WP am 7. September und schob am nächsten Tag den Kommentar »Den Kapitalismus überdenken« nach, worin sie reichlich hilflos feststellte: »Gesetzmäßigkeiten, die wir glaubten zu verstehen, scheinen nun nicht mehr zu gelten.« Einen Schritt weiter ging Prof. Kuttner von der Uni Cambridge am 8. September in der NYT unter dem Titel: »Freie Märkte schaffen noch lange keine gute Gesellschaft«. Er beklagt, daß »freie Märkte den Wert der menschlichen Arbeit, der Bildung und Erziehung, der allgemeinen Gesundheit, der Umwelt« und vieler anderer, für die menschliche Gesellschaft unabdingbarer Werte »falsch bewerten; etwas, was die »hohen Priester der Wirtschaft mit ihrer extremen Fixierung auf den freien Fluß des Finanzkapitals einfach nicht erkennen wollen«. Zur selben Zeit meldete sich Robert J. Samuelson in »Newsweek« wieder zu Wort, unter dem Titel: »Globaler Kapitalismus, einst triumphierend, jetzt voll auf dem Rückzug«. Er schreibt recht ratlos: »Aber das Scheitern des globalen Kapitalismus fordert eine weitergehende Erklärung. Schließlich gehen wir davon aus, daß der Kapitalismus sich ganz besonders gut für die Allokation von Investitionsmitteln eignet. Diesmal war das allerdings nicht der Fall.« Daraus folgert er, daß der »globale Kapitalismus seine Aura der Unanfechtbarkeit so schnell nicht wieder gewinnen wird«. Dies schätzt auch der Partner einer amerikanischen Beratungsfirma für globale und strategische Wirtschaftsfragen so ein. In einem Artikel der IHT vom 9. September schreibt er, daß »in den kommenden Jahren die Ereignisse der letzten Wochen besser als das verstanden werden, was sie wirklich sind: Der Wendepunkt, an dem die Globalisierung in der Weltwirtschaft ihren Platz als unangreifbare Logik verloren hat.« Und in Asien hätte man diese Lehre bereits gut verstanden, denn »die Globalisierung verursachte die asiatische Krise, und sie kann folglich nicht das Heilmittel sein«.

Robert Zoellick, der amtierende Präsident des renommierten Washingtoner Instituts für Internationale und Strategische Studien beklagte in der IHT vom 7. September die Unfähigkeit von US-Regierungen, »die Gewinne zu konsolidieren, die das amerikanische System nach dem Ende des Kalten Krieges gemacht hatte«. Nun sei es zu spät. Die Gefahr eines ernsten Rückschlages wachse. Trost sucht er in der fernen Zukunft: »Langfristig werden die Märkte und der Kapitalismus sich sicher als überlegen erweisen.« Auf diesen Einwand der Marktideologen hatte der weltberühmte britische Ökonom John Maynard Keynes schon vor fast 70 Jahren die treffende Antwort: »Langfristig sind wir alle tot«. Keynes führte weiter aus, daß es jetzt gelte, aktiv zu werden und gegenzusteuern und zwar mit Hilfe des Staats. Nicht weniger, sondern mehr Staat, denn nur er könnte die notwendige Nachfrage schaffen und in der Wirtschaft als Hebel wirken.

Keynes revolutionierte die Wirtschaftstheorie, und als Berater der britischen Regierung fand er Gehör, nicht nur in England. Die Anwendung seiner Rezepte führte aus der ersten Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre heraus. Keynes war auch der geistige Vater des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dort will man allerdings seit Anfang der 80er Jahre nichts mehr von Keynes wissen und hat sich ganz der neoliberalen Ideologie verschrieben.

Vor einigen Monaten sah es noch so aus, als würde sich diese Ideologie weltweit durchsetzen, als ob die Krise die Politik der davon betroffenen Länder in Asien und Rußland in die gewünschte Richtung von deregulierten Waren-, Kapital- und Finanzmärkten zwingen würde. Mr. Camdessus, der Chef des IWF, freute sich bereits. Im ersten Halbjahr 98 hatte er wiederholt das wirtschaftliche Chaos als einen »Segen in Verkleidung« (WP 7. September) bezeichnet. Denn so würde den Ländern nichts anderes übrigbleiben, als das amerikanische Modell zu übernehmen.

Daß der IWF ein Instrument des amerikanischen Kapitals ist, gab die New York Times ganz offen zu. Am 4. September schrieb sie, daß »die USA mit Hilfe des IWF« versuchten, in Rußland, Asien und anderswo »Reformen durchzusetzen, die den Investoren die Macht geben, nach ihrem Gutdünken Geld über nationale Grenzen zu verschieben, ohne daß die Möglichkeit der Einflußnahme der nationalen Regierungen gegeben ist«. Länder, die sich diesen »Reformen« widersetzten, so erklärte der US-Finanzminister Rubin in der gleichen Ausgabe, würden von den internationalen Finanzflüssen abgeschnitten und aus Mangel an Kapital zugrunde gehen.

Das Zentrum der Kritik

In jüngster Zeit kommt Herrn Camdessus vom IWF das Wort vom versteckten Segen der Krise nicht mehr über die Lippen. Vielmehr ist er selbst ins Zentrum der Kritik geraten, weil sich der IWF bei der Bekämpfung der Krise als unfähig erwiesen hat und seine Rezepturen das Chaos nur verschlimmert haben. Selbst Aufforderungen zu seinem Rücktritt sind in letzter Zeit zu hören, ganz besonders nach der überraschenden Kehrtwende in Malaysia.

»Das System der freien Marktwirtschaft hat versagt!« Mit diesen Worten führte der 72jährige Premier Malaysias, Mohamad Mahathir, sein neues Wirtschaftsprogramm für sein Land Anfang September dieses Jahres ein. Damit kehrte Malaysia zur Devisenbewirtschaftung zurück, um sich in Zukunft vor Finanzspekulationen im großen Maßstab zu schützen, die auch dieses Land fast in den Ruin getrieben haben. Von den ominösen Warnungen des US- Finanzministers (siehe oben) ließ er sich nicht beeindrucken.

Schützenhilfe bekam Mahathir von gänzlich unerwarteter Seite. »Was ist, wenn Premierminister Mahathir recht hat?« fragte das »Asian Wall Street Journal (am 2.September), das bisher die neoliberale Ideologie verfochten hatte. Im selben Artikel warf das Journal dem IWF vor, in der schlimmsten Krise Asiens »das Problem und nicht dessen Lösung« zu sein.

Und in dem schon erwähnten Artikel »Herausforderung an die Orthodoxie« ließ einige Tage später das New Yorker Wall Street Journal durchblicken, daß der freie Markt vielleicht doch nicht automatisch alles zum besten regelt, daß die aktuelle weltweite Krise vielleicht doch Devisenkontrollen als wünschbar erscheinen läßt, um den Schwellenländern eine zeitweilige Erleichterung zu verschaffen.

Wenn das Journal zu dieser in der Tat »revolutionären« Erkenntnis kommt, muß es um den Zustand der Weltwirtschaft schlecht bestellt sein. Bereits 1995 etablierten die Strategen im US-Finanzministerium ein Maßnahmenpaket, das das Überschwappen eines Finanzchaos in einem Land auf andere Länder oder Regionen verhindern sollte. Das war nach der Peso-Krise in Mexiko, die bereits damals drohte, die sogenannten »emerging markets«, die aufsteigenden Wirtschaften der Dritten Welt, mit in den Abgrund zu reißen. Der IWF, die G-7-Länder, insbesondere die USA, stellten Mexiko insgesamt 50 Milliarden Dollar zur Verfügung.

Dies sollte Zeit kaufen, um zugleich im internationalen Finanz- und Währungssystem die angeblich notwendigen strukturellen Verbesserungen durchzusetzen, natürlich nach amerikanischen Vorstellungen. Zu deren Durchsetzung mußte der IWF wieder herhalten. In der Terminologie der US- Finanzstrategen sollte so eine »Feuerschutzwand« errichtet werden, die überall auf der Welt schnell zum Einsatz kommen könnte.