Die Russen können wieder »Njet« sagen

Die Russen können wieder »Njet« sagen

von Rainer Rupp

erschienen am 15.09.1998 in der Jungen Welt

Mit Primakow kam ein Premier, der dem Westen nicht aus der Hand frißt

»Was auch immer mit dem Rubel und der russischen Wirtschaft passiert, die nächste Regierung in Moskau wird mit Sicherheit weniger Spielraum für Kooperation mit der NATO haben … es besteht die reelle Gefahr eines anti- westlichen Rückschlags.« Der hohe Bonner Regierungsbeamte, der dies Anfang September gegenüber einem Korrespondenten der »Washington Post« sagte, wollte lieber ungenannt bleiben. Jetzt, mit Jewgeni Primakow als Ministerpräsident der Russischen Föderation, dürfte sich seine Voraussage mit hoher Wahrscheinlichkeit bestätigen. Gründe für den anti-westlichen Rückschlag hat der Westen massenhaft selbst geliefert, auf wirtschaftlichem, politischem und sicherheitspolitischem Gebiet.

Schon in den achtziger Jahren sahen die Herren der NATO in der Sowjetunion nichts anderes als ein Entwicklungsland, das wegen seines riesigen Raketenwaffenbesitzes leider Weltmachtstatus hatte und das so die globalen Pläne der USA und anderer NATO-Staaten immer wieder durchkreuzen konnte. Nach der Auflösung der UdSSR verlief auch alles nach den Vorstellungen der NATO: Rußland brach als Industrie- und Technologiemacht zusammen. Interessant für den Westen blieb es nur als Exportmarkt und Rohstofflieferant, als Spielwiese für schnelle, spekulative Finanzgeschäfte, die riesige Gewinne versprachen.

Willige Helfer fand das westliche Kapital bei Vertretern der alten sowjetischen Nomenklatura und mafiösen Gangsterstrukturen. Unterstützt von korrupten Politikern der Jelzin-Regierung teilten sie die Filetstücke des sowjetischen Erbes unter sich auf. Der Rest konnte zerfallen. Während die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung immer desolater wurde, schaffte die Klasse der russischen Raubritter über 102 Milliarden Dollar auf sichere Privatkonten in den Westen, wie eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des amerikanischen Kongresses kürzlich feststellte. (Rußlands Außenschulden betragen etwa 150 Milliarden Dollar.) Zugleich hing das Überleben der Jelzin-Regierung immer stärker von westlicher Finanzhilfe ab. Rußland war auf das Niveau eines Entwicklungslandes zurückgefallen.

Durch den jüngsten totalen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft hat in den Augen der Bevölkerung nicht nur das westliche Modell des Kapitalismus gänzlich versagt, es wurden auch die Erfahrungen unter sowjetischer Führung aufgewertet. Auch scheint kaum noch jemand an die Aufrichtigkeit der westlichen Hilfe zu glauben. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, daß mit jeder westlichen Dollar- Milliarde, mit der das Jelzin-Regime länger über Wasser gehalten wurde, zig Milliarden Dollarwerte an russischer wirtschaftlicher und technologischer Substanz zusätzlich vernichtet wurden.

Ernste Sorgen machte sich der Westen nur noch wegen der weiterhin großen Zahl schlecht gewarteter und bewachter russischer Nuklearwaffen. Ansonsten glaubten die imperialistischen Metropolen, mit Rußland nach eigenem Gutdünken umspringen zu können. Dazu gehört auch – trotz ursprünglich gegenteiliger Versprechen – die NATO- Expansion nach Osten. Von den Russen wurde verlangt, dafür Verständnis aufzubringen. Zugleich umwarben die NATO- Strategen Moskau eifrig, wenn es darum ging, Rußland in die westlichen sogenannten friedensschaffenden Militäraktionen zur Durchsetzung der »neuen Weltordnung« einzubinden. Anfangs gelang dies auch recht gut.

Erst als Jewgeni Primakow als neuer russischer Außenminister auftauchte, änderte sich das – langsam, aber sicher. Konsequent reizte er die wenigen ihm noch verbliebenen Freiräume in Verhandlungen mit dem Westen aus. Er bewies, daß Rußland doch noch keine Marionette der NATO war und immer noch »njet« sagen konnte, wenn z. B. seine Interessen auf dem Balkan, in Zypern oder im Mittleren Osten betroffen waren. Diese konsequente Haltung verschaffte Primakow Respekt und Achtung in der Duma und vor allem bei der Bevölkerung. Nicht von ungefähr war er der einzige Minister, der die sukzessiven Regierungsumbildungen Jelzins unbeschadet überstanden hat.

Spätestens seit die Ost-Expansion der NATO beschlossene Sache war, wurden die russischen Beziehungen zur Brüsseler Militärallianz nachhaltig vergiftet. »Ein Jahr, nachdem der NATO-Rußland-Rat ins Leben gerufen wurde, quält er sich nun dahin in einem Labyrinth gegenseitigen Mißtrauens, gegensätzlicher Einschätzungen und bürokratischer Unbeweglichkeiten«, schrieb kürzlich die »International Herald Tribune« in einem Bericht aus Brüssel. Die beim Gründungsakt ausgesprochenen Phrasen haben sich als völlig leer erwiesen. Nach Aussagen von NATO-Diplomaten trage Primakow die alleinige Schuld an dieser Entwicklung. Um den Großmachtsanspruch seines Landes aufrecht zu erhalten, würde er immer wieder die Kooperation mit dem Westen schwächen. Dabei gebe er vor, doch nur die legitimen russischen Sicherheitsinteressen zu vertreten und zu verhindern, daß extreme Nationalisten zu Hause die Oberhand gewinnen.

Anfang des Jahres sagte Primakow: »Rußland kann die NATO-Expansion zwar nicht verhindern, aber das bedeutet nicht, daß dies nicht ohne negative Folgen bleibt.« Es folgte die Warnung, daß Rußland viele Möglichkeiten habe, die amerikanischen Pläne zu durchkreuzen, nicht durch Drohungen oder Gewaltanwendung, sondern einfach durch die Verweigerung der Kooperation. Diese einfache Logik ist offenbar den NATO-Diplomaten verschlossen geblieben. Nun beschweren sie sich, daß sich Rußland hartnäckig weigert, »bei der Lösung verschiedener Krisen eine hilfreichere Rolle zu spielen« (Washington Post). Rußlands Chefdelegierter bei der NATO würde von Primakow an einer solch kurzen Leine geführt, »daß jeder substantielle Dialog unmöglich ist«.

Russische Diplomaten werfen ihrerseits wiederum der NATO vor, daß diese sich nicht an das Gründungsdokument des NATO-Rußland-Rates halten. Wann immer sie von der Allianz Details über deren Pläne für die militärische Infrastruktur und Truppenstationierung für die neuen Mitgliedsländer in Osteuropa haben wollten, würde sie die NATO mit der fadenscheinigen Begründung abweisen, daß die Allianz nicht über die Köpfe der Tschechen, Polen und Ungarn hinweg deren sicherheitspolitischen Angelegenheiten diskutieren könne.

Nur auf rein militärischem Gebiet haben die Russen ein reges Interesse an gemeinsamen Manövern und Waffenkooperationen mit der NATO an den Tag gelegt. Möglichst viel vom alten und potentiell neuen Gegner zu lernen, scheint die Devise zu sein – so lange noch Zeit dafür ist. Mit Primakow als Ministerpräsident wird die NATO es noch schwerer als bisher haben, ihre doppelbödige Strategie gegenüber Rußland weiter zu betreiben.