Die Vernunft des Dr. Seltsam

Die Vernunft des Dr. Seltsam

von Rainer Rupp

erschienen am 08.12.1998 in der Jungen Welt

NATO-Strategie-Debatte: Die unsterbliche Erstschlagdoktrin (Teil I)

Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom Juli 1998 ist eindeutig: »Die Drohung mit und der Einsatz von Kernwaffen verstoßen generell gegen die Regeln des internationalen Völkerrechts.« Kürzlich bei einer Podiumsdiskussion in Berlin unterstützte Richter Heinrich W. Laufhütte, Vorsitzender des 5. Senats des Bundesgerichtshofs, ausdrücklich diese Position. Dies sei im juristisch relevanten Sinne offensichtlich.« Auf die Frage, ob demnach die Bundeswehroffiziere, die in der NATO an der Planung von nuklearen Erstschlägen beteiligt sind, nicht ein Fall für die Staatsanwaltschaft sein müßten, gab Richter Laufhütte zur Antwort, das sei doch nicht mehr aktuell (siehe ND vom 26. November).

Einspruch, Euer Ehren. Das ist noch höchstaktuell! Und nach wie vor brandgefährlich! Wie Richter Laufhütte glaubt aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, daß die nukleare Erstschlagdoktrin der NATO längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. Und in diesem Glauben sollte sie auch belassen werden, wäre es nach den Vorstellungen der Kohl-Regierung gegangen. Währenddessen bereitete sich die NATO stillschweigend auf die Verabschiedung ihres neuen strategischen Konzeptes anläßlich ihres 50. Jahrestages im April 1999 vor. Darin soll ihr militärischer Aktionsradius, einschließlich der Drohung mit dem atomaren Erstschlag, auf andere Weltregionen außerhalb ihres jetzigen Zuständigkeitsbereiches ausgedehnt werden. Eine folgenschwere sicherheitspolitische Veränderung, die fast unbemerkt von der Öffentlichkeit umgesetzt werden soll.

Eckstein der NATO

Abgesehen von der grundsätzlichen Völkerrechtswidrigkeit der bestehenden NATO-Doktrin wirft ihre beabsichtigte geographische Ausdehnung zur Untermauerung der »neuen Weltordnung« viele politische und ethische Fragen auf. Bevor die Bundesrepublik diesem folgenschweren Schritt der NATO zustimmt, verlangt es der demokratische Rechtsstaat, daß die diesem Schritt unterliegende Negierung moralischer Prinzipien öffentlich diskutiert und bewertet wird. Fragen von Krieg und Frieden sind zu wichtig, um sie den Generälen und ihren Strategen zu überlassen. Von moralischer Bedeutung ist auch die Frage, wessen Interessen mit dem neuen NATO- Konzept weltweit notfalls auch mit einem nuklearen Erstschlag durchgesetzt werden sollen.

Die Befürworter der »first use«, der Erstschlagdoktrin, vornweg Verteidigungsminister Scharping, erklären, daß sie »vernünftig« und »bewährt« sei. Sie sei »defensiv« und der »Eckstein der NATO-Strategie«. Und auch im neuen NATO- Konzept müsse die »Kontinuität« gewahrt bleiben. Es ist die verrückte Logik des Dr. Seltsam, der gelernt hatte, die Bombe zu lieben, die hieraus spricht. Aber selbst wenn man der selbstmörderischen Logik der »first use«-Doktrin des Kalten Krieges folgt, so ist sie unter den heutigen Bedingungen obsolet und auf keinen Fall als »Defensivstrategie« im Rahmen des neuen strategischen Konzeptes der NATO übertragbar. Dort muß sie weltweit von all jenen Ländern als besondere Drohung angesehen werden, die sich nicht der »neuen Weltordnung« von Amerikas und NATO-Gnaden beugen wollen. Dies wird einen zusätzlichen Anreiz geben, selbst Massenvernichtungsmittel zu entwickeln.

Während des Kalten Krieges war die nukleare Erstschlagdoktrin fester und wesentlicher Bestandteil der US- und NATO-Strategie. Sie war gegen einen anfangs wenig, später aber ebenfalls atomar hochgerüsteten Gegner gerichtet, die Sowjetunion. Wäre es je zu einem bewaffneten Ost-West- Konflikt gekommen, hätte die Umsetzung dieser Doktrin wahrscheinlich zur Vernichtung der Menschheit auf der nördlichen Halbkugel unserer Erde geführt, mit verheerenden Folgen für den Rest der Welt. Es war ein wahnwitzig gefährliches Spiel, in dem auf beiden Seiten die Vernichtungspotentiale so hochgeschraubt wurden, daß man die jeweils gegnerische Seite nicht einmal, sondern -zigfach zerstören konnte, selbst wenn der andere zuerst zugeschlagen hätte.

Die Gewißheit der sicheren eigenen Zerstörung veranlaßte denn auch beide Seiten, jede direkte Auseinandersetzung, die zum Krieg hätte führen können, zu meiden. Ganz so einfach war dies jedoch nicht. Wegen der vielen Grauzonen, unterschiedlicher und gar falscher Einschätzungen der Absichten der anderen Seite, wegen wiederholter Bemühungen, das Gleichgewicht des Schreckens doch noch zu den eigenen Gunsten zu verändern und als politische Drohkulisse zu nutzen, kam es wiederholt zu Krisen, die uns an den Rand des »Dritten Weltkrieges« brachten; so z. B. die Kuba-Krise 1962 und die Modernisierung der atomaren Mittelstreckenwaffen durch die NATO 1983 in Europa. Nur die sichere eigene Zerstörung im Falle eines Krieges bewahrte uns vor Schlimmerem und führte zur Lösung der Konflikte auf dem Verhandlungswege.

Atomwaffen gegen Städte

Heute ist die Situation grundsätzlich anders. Der Kalte Krieg ist seit langem vorbei. Der Ersteinsatz von Atomwaffen im Rahmen des neuen strategischen Konzepts der NATO zur weltweiten »Verteidigung« westlicher Interessen richtet sich vor allem gegen potentielle Gegner, von denen keine unmittelbare Gefahr für die eigene Bevölkerung ausgeht.

Daher ist zu befürchten, daß im Falle eines bewaffneten Konfliktes der NATO mit solchen Ländern die Hemmschwelle gegen den Einsatz von Atomwaffen entsprechend sinken wird. Daß die USA in der Vergangenheit wiederholt den Einsatz von Atomwaffen gegen Länder der Dritten Welt ernsthaft in Erwägung gezogen haben, ist dokumentiert und unterstreicht, daß diese Befürchtung nicht realitätsfern ist. Die Übernahme der Erstschlagdoktrin in das neue strategische Konzept der NATO stellt daher ein formidables Mittel zur Erpressung und Gefügigmachung all jener Länder dar, die sich, egal wo auf der Welt, der Durchsetzung der Interessen der westlichen (Finanz- und Wirtschafts-)Wertegemeinschaft in den Weg stellen.

Die USA sind das einzige Land, das Atomwaffen gleich zweimal gegen Großstädte eingesetzt hat. Anhand der seither veröffentlichten Dokumente und Memoiren der an der Entscheidung Beteiligten ist heute nachvollziehbar, daß es seinerzeit drei Denkschulen gab: Die erste hatte grundsätzliche moralische Skrupel gegen den Einsatz der A-Bomben gegen zivile Ziele, zumal die japanische Kapitulation ohnehin in Kürze erwartet wurde. Zur Demonstration der Zerstörungskraft der neuen Bombe sollte die – nach vorheriger Benachrichtigung der Japaner – über einer unbewohnten Insel abgeworfen werden. Durchgesetzt haben sich die beiden anderen Denkschulen. Die zweite wollte unbedingt die neue Waffe unter realistischen Bedingungen testen, und die dritte versteifte sich auf die Argumentation, daß weitere amerikanische Verluste durch den Einsatz der Bombe minimiert würden. Obwohl auch die Amerikaner wußten, daß der japanische Kaiser unmittelbar nach der Atomisierung Hiroshimas die Order zur Vorbereitung der Kapitulation gab, wurde einige Tage später die zweite A-Bombe auf Nagasaki geworfen.

Jahre des Monopols

Kenner der Materie, u. a. der Sicherheitsberater Kennedys, McGeorge Bundy, haben seither den Verdacht geäußert, daß die Zerstörung Nagasakis hauptsächlich als »Signal« an die Sowjetunion gedacht war. Als Demonstration, daß die USA über jede Menge dieser neuen Waffen verfügte und auch gewillt war, sie einzusetzen.

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg besaß die USA das unangefochtene Monopol über Kernwaffen. In dieser Zeit verschärften sich bereits die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion. In zahlreichen Planspielen wurde in jener Zeit die atomare Vernichtung der Sowjetunion geübt. Washington war dazu bereit, falls es zu einem Krieg kommen sollte. Moskau gab jedoch keinen Anlaß, sondern es entwickelte mit Hochdruck seine eigene Bombe, die es Ende August 1949 zum ersten Mal erfolgreich testete. Das nukleare Wettrüsten hatte begonnen. Im Januar 1950 gab Präsident Truman den Befehl zur Entwicklung der Wasserstoffsuperbombe, die am 1. November 1952 gezündet wurde.

Das sowjetische Gegenstück wurde weniger als ein Jahr später getestet. Zugleich intensivierte sich die Entwicklung von Langstreckenträgerwaffen, die die nukleare Vernichtung ins Herz des gegnerischen Territoriums tragen konnten.

Solange die Sowjetunion bei den strategischen Nuklearwaffen noch eindeutig unterlegen war, wurde in den USA eine heftige Strategiedebatte über Nutzen und Schaden eines atomaren Erstschlags gegen die Sowjetunion geführt. Besonders hervorgetan hat sich dabei General Curtis LeMay. Von 1948 bis 1957 war er Chef des SAC, des strategischen (nuklearen) Luftkommandos. Er hatte den Finger am nuklearen Drücker und war zugleich ein feuriger Verfechter eines atomaren Präventivangriffs gegen die Kommunisten in Moskau. »Er war überzeugt, daß die USA einen strategischen nuklearen Krieg führen und gewinnen könnten«, schrieb McGeorge Bundy in seinem Buch »Danger and Survival«.

Aber je mehr strategische Systeme die Sowjetunion in Betrieb nahm und gegenüber den USA aufholte, um so wahnsinniger wurde die Idee eines Präventivschlages. In der Sowjetunion würden in einem solchen Fall immer noch genügend Systeme überleben, um auch die USA zu vernichten. Langsam setzte sich diese Erkenntnis der »sicheren (Selbst)Zerstörung« Ende der 60er Jahre in den USA durch. Eine Erkenntnis, die in Schlüsselfragen der Ost-West-Politik zu mäßigendem Verhalten verpflichtete und die Lösung anstehender Probleme am Verhandlungstisch gebot. Als 1972 das erste strategische Rüstungsbegrenzungsabkommen SALT I von den USA und der UdSSR unterzeichnet wurde, hatten beide Seiten die Realitäten des thermonuklearen Zeitalters akzeptiert, daß im Falle eines Atomkrieges keiner gewinnen konnte.

Gegen dieses regierungsamtliche Eingeständnis der eigenen »sicheren Vernichtung« regte sich im Westen alsbald Widerstand von zwei gänzlich verschiedenen Seiten. Zuerst in Europa und dort besonders bei den Westdeutschen. Bonn sah in der neuen Politik Washingtons eine Abkoppelung der amerikanischen strategischen Atomwaffen von der Verteidigung Europas bzw. der BRD. Wenn die USA ihre eigene sichere Vernichtung vor Augen hätten, so die Argumentation, dann wäre es auch nicht mehr glaubwürdig, daß sie zur Verteidigung Berlins notfalls strategische Waffen gegen die Sowjetunion einsetzen würde. Dadurch würde ein auf Europa beschränkter konventioneller Krieg wieder führbar. Dadurch, daß nun die strategischen Nuklearwaffen der USA wegen vielfältiger »Stolperdrähte« nicht mehr an einen konventionellen Krieg in Europa angebunden seien, hätten sie auch ihre abschreckende Wirkung zur Verhinderung eines solchen Krieges verloren.

Der amerikanische Nuklearschirm über Europa war durchlöchert. Auch für die amerikanischen politischen Strategen war klar, daß ohne glaubhafte Nukleargarantie, auf die die Deutschen so sehr drängten, sich langfristig auch das politische Verhältnis der BRD zur Sowjetunion und dem Warschauer Vertrag zum Nachteil des Westens und der USA ändern werde. Mit anderen Worten, die BRD würde für Wünsche des Ostens empfänglicher werden. Das Wort von der »Finnlandisierung« Deutschlands fiel in diesem Zusammenhang. Um dies zu verhindern, wurde in der NATO eine neue Strategiedebatte in Gang gesetzt.

Vorrangiges Ziel der BRD war dabei, über ein neu zu schaffendes »Mittelstück« doch noch die Anbindung der strategischen US-Nuklearwaffen an einen konventionellen Krieg in Europa wiederherzustellen bzw. dadurch vor einem konventionellen Krieg abzuschrecken. Dabei ging die BRD zu recht davon aus, daß Deutschland (Ost und West), auf dessen Territorium die beiden Militärblöcke die größte Ansammlung von Waffen in der Weltgeschichte konzentriert hatten, im Falle eines Krieges total zerstört würde, selbst wenn dieser Konflikt nur mit konventionellen Waffen ausgetragen würde. Deshalb mußte nach den Vorstellungen Bonns auch ein längerer konventioneller Konflikt auf jeden Fall vermieden werden.

Das Ergebnis der neuen Strategiedebatte war die NATO- Doktrin der Flexible Response, die als Kern das von Bonn gewünschte Mittelstück zur Anbindung der strategischen US- Nuklearwaffen hatte: der atomare Erstschlag. Bereits in einer frühen Phase eines konventionellen Konfliktes würden taktische amerikanische Atomwaffen zum Einsatz kommen, solange bis sich die Streitkräfte des Waschauer Vertrags entweder zurückzogen oder die Sowjetunion selbst mit Atomwaffen antwortete, von denen auch Amerikaner getroffen würden. Das wiederum sollte, so die Vorstellungen Bonns, die strategischen Waffen der Amerikaner ins Spiel bringen.

Frontnah zur DDR

Unter dem Eindruck der eigenen sicheren Zerstörung bei einem strategischen Schlagabtausch fanden die Bonner Bemühungen, die strategischen Nuklearwaffen der USA wieder in einen europäischen Konflikt einzubinden, in Washington anfangs wenig Gegenliebe. So wurde denn auch immer wieder an der Doktrin der »Flexible Response« hauptsächlich auf Bonner Initiative herumgedoktort. So wurde z. B. durchgesetzt, daß in einem Krisenfall die taktischen US-Atomwaffen (auch auf westdeutschen Trägersystemen) relativ frontnah zur DDR in Stellung gingen, damit frühzeitig die Entscheidung getroffen werden mußte, sie entweder abzufeuern oder zu verlieren.

Eine Katastrophe war jedoch für die Bonner Erstschlag- Strategen, als man in Washington im Rahmen der »Flexible Response« die abgestufte Abschreckung« (discriminate deterrence) entwickelte, die einen auf Europa beschränkten Krieg mit taktischen Atomwaffen möglich gemacht hätte. Zwar ging Washington dabei ebenfalls vom Ersteinsatz taktischer US-Atomwaffen aus, die sollten aber nicht auf sowjetisches Territorium fallen, um so keinen strategischen Gegenschlag auf die USA herauszufordern.