Ein Stellvertreter drängt sich auf

Ein Stellvertreter drängt sich auf

von Rainer Rupp

erschienen am 12.10.1999 in der Jungen Welt

Australien im Zwielicht: Asiatische Staaten kritisieren Rolle in Osttimor als Hilfssheriff der USA

Der weltbekannte USA-Wissenschaftler und Friedensaktivist Noam Chomsky wies Mitte September in einem Interview mit dem kanadischen Nachrichtensender CBC darauf hin, daß die Gründe für die bisher nur »lauwarme amerikanische Opposition« gegen die Osttimor-Politik Jakartas in dem engen Geflecht aus geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen zu finden waren, die bisher das Verhältnis der USA zu dem indonesischen Gewaltregime bestimmten.

Bei der Besetzung Osttimors und Unterdrückung der Bevölkerung hätten sich Amerika und der Westen sogar als Komplizen Jakartas mitschuldig gemacht: »Seit der indonesischen Besetzung von Osttimor im Jahre 1975 hat der Westen die Politik Jakartas unterstützt, ja, sogar daran teilgenommen. Die Invasion wurde von der US- Diplomatie entscheidend unterstützt. Wir wissen das aus den Memoiren des damaligen US-Botschafters (in Jakarta) Patrick Moynihan. Die Invasion wurde auch mit amerikanischen Waffen durchgeführt. Auch das war (nach US-Recht) illegal, weil die Waffen nur zum Zweck der Selbstverteidigung geliefert worden waren. Die USA verstärkten sogar sofort danach noch den Waffenfluß nach Indonesien, was jedoch vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurde. Und in den Jahren 1977/78 wurden die Lieferungen sogar nochmals ausgeweitet, und zwar zu einer Zeit, als die Grausamkeiten in Osttimor ihren Gipfel erreichten. Die 200 000 Toten, an die man sich jetzt wieder erinnert, die stammten aus den Jahren 1977/78. Düsenbomber griffen die Dörfer mit Napalm in den Bergen an und verursachten ein unvorstellbares Desaster. Auf abscheuliche Art erleben wir dieses Desaster nun erneut« schrieb Noam Chomsky.

»Howard-Doktrin« stößt auf Ablehnung

Trotzdem hatten weder Präsident William Clinton noch sein Freund Tony Blair, sonst die eifrigsten Verfechter des »humanitären Militarismus«, bis vor kurzem nicht einmal die Notwendigkeit gesehen, wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen gegen Indonesien in Betracht zu ziehen, geschweige denn, eine militärische UNO- Friedensmission zu unterstützen. Daß die USA und andere westliche Länder lange Zeit völkerrechtliche Bedenken gegen eine UNO-Intervention in Osttimor vorbrachten, wirkt vor dem Hintergrund des Angriffskrieges derselben Länder gegen Jugoslawien bestenfalls wie ein makabrer Witz. In mehrfachem Sinne, denn da Osttimor niemals zum Staate Indonesien gehört hat, konnte es diesbezüglich auch keine völkerrechtlichen Bedenken geben. Schon vor 25 Jahren verlangte der Sicherheitsrat der UNO die Unabhängigkeit dieses von Indonesien besetzten Landes. Man hätte also gar nicht erst Indonesien um Erlaubnis zur Entsendung einer UNO- Friedenstruppe nach Osttimor fragen müssen. »Man hat ja auch Saddam Hussein nicht gefragt, bevor man Kuweit von der irakischen Besatzung befreite«, meint dazu Prof. Chomsky.

In Südostasien hat es kein Land gegeben, das in der Vergangenheit die indonesische Gewaltanwendung in Osttimor nicht als schrecklich und vollkommen inakzeptabel verurteilt hätte. Eigentlich müßten deshalb die Länder dieser Region über die Entsendung einer UNO-Friedenstruppe nach Osttimor zufrieden sein. Wenn das Gegenteil der Fall ist, so hat das hauptsächlich mit der kürzlichen Deklaration des australischen Premierminister John Howard zu tun. In dieser Deklaration, die prompt als Howard-Doktrin bekannt wurde, schwingt sich Australien zum Hilfssheriff der Vereinigten Staaten in Südostasien auf. (AP-Foto: Australische Soldaten am Sonntag an der Grenze zwischen Ost- und Westtimor)

Unmittelbar im Anschluß an die Intervention in Osttimor unter australischem Oberkommando hatte Premier Howard Mitte September 1999 seine neue Doktrin in einem Interview dem australischen Wochenmagazin The Bulletin erläutert. Seither herrscht im südostasiatischen Raum ziemliche Aufregung.

Howard hatte unter Bezugnahme auf die australische Führung der Intervention der UNO-Friedenstruppen in Osttimor erklärt: »Nicht nur in der Region, sondern rund um die Erde haben die Staaten gesehen, wie wir (Australier) etwas getan haben, was wahrscheinlich kein anderes Land hätte tun können, und zwar wegen unserer besonderen Charakteristiken, weil wir da, wo wir sind, eine spezielle Rolle spielen, wir sind eine europäische, westliche Zivilisation mit starken Bindungen zu Nordamerika, aber wir sind hier in Asien (zu Hause). … Zur Verteidigung dieser (westlichen) Werte sind wir bereit, uns auch mit unseren nächsten Nachbarn zu streiten. Und dabei können wir auf unsere engen Bindungen zu Nationen außerhalb Asiens setzen.« Am Beispiel Osttimors wird nach Ansicht Howards ersichtlich, daß es für die USA nicht immer »vernünftig, angemessen und passend« ist, jeden friedenserzwingenden Einsatz in der Welt selbst anführen zu müssen. Deshalb soll nach seinen Vorstellungen Australien in Zukunft diese Rolle in Asien übernehmen.

In der »Howard-Doktrin« schwingt also nicht nur unterschwellig weißer Rassismus mit, sondern in zwei Hauptpunkten wird die bisherige Sicherheitspolitik Australiens auf den Kopf gestellt. Erstens will sich Australien auch in Zukunft aktiv in asiatische Belange einmischen, auch mit weiteren Interventionen. Um westliche Wertvorstellungen in Südostasien durchzusetzen, ist Premier Howard bereit, sich auch mit seinen unmittelbaren asiatischen Nachbarn anzulegen. Und zweitens: Australien will seine neue Rolle als regionaler Stellvertreter der USA ausüben und hofft, von Washington die dafür nötige Rückendeckung zu erhalten. Und damit die neue Doktrin auch in die Tat umgesetzt werden kann, kündigte Premier Howard eine deutliche Erhöhung der Rüstungsausgaben an, die sich derzeit auf nur etwa zehn Milliarden Dollar belaufen (ungefähr zwei Prozent des australischen Bruttoinlandproduktes).

Aufgrund mangelnder militärischer Substanz dürfte Australien noch viele Jahre nicht in der Lage sein, seine neue Strategie auch tatsächlich umzusetzen. In den vergangenen Jahrzehnten hatte nämlich in der australischen Sicherheitspolitik der Konsens geherrscht, die Rüstungsausgaben so niedrig wie möglich zu halten. Erstens sollten keine knappen Ressourcen für unproduktives Kriegsgerät verschleudert werden, und zweitens – was als noch gewichtiger erachtet wurde – sollte Australien aufgrund unzureichender militärischer Strukturen materiell einfach nicht in der Lage sein, dem Drängen der USA zur Teilnahme an militärischen Operationen in und außerhalb Asiens nachkommen zu müssen. Unter dem Druck des globalisierenden wirtschaftspolitischen Neoliberalismus hat Premier Howard mit seiner neuen Doktrin den bisherigen sicherheitspolitischen Konsens in Australien aufgekündigt. Die parlamentarische Opposition hat bereits erklärt, daß sie die von Howard geforderten hohen Wachstumsraten für Rüstungsausgaben strikt ablehnt.

Seit der Deklaration der Howard-Doktrin klappt es auch mit den asiatischen Nachbarn nicht mehr. Die Regierungen von Thailand und Malaysia verurteilten die neue australische Außenpolitik sofort in aller Schärfe. Trotz ihrer starken innenpolitischen Differenzen erklärten z. B. Regierung und Opposition in Malaysia in seltener Übereinstimmung, daß Australien als regionale Führungsmacht oder gar Beschützer nicht in Frage kommen würde. Die Rolle des »US-Hilfssheriffs für Asien«, die sich Australien selbst zugewiesen habe, sei nichts anderes als »der Gipfel der Arroganz«, so Lim Kit Siang, der malaysische Oppositionsführer, in der »International Herald Tribune« vom 27. September.

Premierminister Howard hätte damit mehr als alle seine australischen Vorgänger getan, um »die Beziehungen seines Landes mit Asien zu beschädigen, zumindest seit den sechziger Jahren, als die australische Einwanderungspolitik >Nur für Weiße< abgeschafft wurde«, so Oppositionsführer Lim.

Ein thailändischer Regierungsbeamter erklärte ebenfalls gegenüber der Presse, daß es »nicht hingenommen werden« könnte, daß »Australien sich zum sicherheitspolitischen Stellvertreter der USA in Asien macht«. »ASEAN muß die Hauptrolle in Asien spielen«, meinte er, indem er die regionale Assoziation südostasiatischer Länder ansprach, der Australien nicht angehört. Ähnliche Kommentare kamen aus den anderen Ländern der Region.

»Humanmilitarismus« ohne Gegenliebe

Der entschlossene Widerstand gegen die Howard-Doktrin dürfte viel mit den Lehren aus dem NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu tun haben, die man auch in Asien gezogen hat. Die ASEAN-Länder befürchten, daß sich auch in Asien hinter der militärischen Interventionspolitik zur angeblichen Verteidigung der Menschenrechte die Durchsetzung handfester geostrategischer und anderer Interessen Australiens und der westlichen Länder, besonders der USA, verstecken. Zu deutlich ist in Asien noch in Erinnerung, daß weder die USA noch Großbritannien noch Australien sich in der Vergangenheit besonders an den massiven Menschenrechtsverletzungen in Indonesien gestört hätten. Die UN-Mission für Osttimor, UNAMET, hatte am 11. September berichtet, daß »eine direkte Verbindung zwischen den indonesischen Milizen und dem Militär außer Zweifel besteht, die seit vier Monaten von UNAMET immer wieder dokumentiert wurde.« Daran schloß sich die Warnung, daß das Schlimmste noch bevorstünde, »wahrscheinlich eine völkermörderische Aktion, um das Osttimor-Problem mit Gewalt zu lösen«.

Der indonesische Historiker John Roosa, ein offizieller Beobachter des Osttimor-Referendums über die Unabhängigkeit, schrieb dazu am 15. September in der »New York Times«: »Da der Pogrom so voraussehbar war, wäre es ein Leichtes gewesen, ihn zu verhindern.« Aber bis zuletzt weigerten sich die Menschenrechtskrieger Clinton und Blair, auch nur Wirtschaftssanktionen gegen das Regime in Jakarta in Erwägung zu ziehen, obwohl allein in den Monaten unmittelbar vor dem Referendum zwischen 3 000 und 5 000 Menschen getötet worden waren. Die Zahl ist doppelt so hoch wie die in der gesamten Zeit des Kosovo-Konfliktes, bevor die NATO-Bomben fielen. Und die Bevölkerung Osttimors ist weniger als halb so groß wie die des Kosovo.

Die Zurückhaltung der USA und des Westens gegenüber Indonesien haben zwei amerikanische Asienspezialisten am 14. September in der »New York Times« erklärt. »Die Clinton-Regierung«, so schrieben sie, »hat sich ausgerechnet, daß die Vereinigten Staaten ihren Beziehungen mit dem an Bodenschätzen reichen Indonesien mit einer Bevölkerung von 200 Millionen Vorrang vor ihren Sorgen über das politische Schicksal von Osttimor geben muß, ein kleines verarmtes Territorium mit 800 000 Einwohnern, die ihre Unabhängigkeit anstreben.« Erst unter dem Druck der eigenen und der Weltöffentlichkeit, die Clinton und Blair an ihren eigenen Worten maßen, bemühte sich der im »Menschenrechting« erfahrene Westen um eine lauwarme Unterstützung einer UNO-Friedensaktion.

Mißtrauen gegenüber Westen überwiegt

Trotzdem wird diese Aktion von den meisten ASEAN- Ländern mit Mißtrauen verfolgt. Und gerade deshalb wollen sie sich auch alle mit eigenen Truppen an der UN- Friedenserzwingungsmission in Osttimor beteiligen. Allerdings weniger aus prinzipieller Überzeugung von Sinn und Notwendigkeit solcher UNO-Operationen, sondern eher darum, um die Westmächte und ihre Absichten in Osttimor besser kontrollieren zu können. Deshalb wird nach Australien z. B. Thailand das zweitstärkste Militärkontingent in Osttimor stellen. Am vergangenen Donnerstag übernahm der thailändische Generalmajor Chakkabatr in Dili, der Hauptstadt Osttimors, die Position des stellvertretenden Kommandanten der INTERFET, der internationalen militärischen Eingreiftruppe der UNO.

Auch gegenüber der UNO, in der der Westen letztlich tonangebend ist, sind die Länder äußerst mißtrauisch geworden. Dies wurde trotz ihrer klaren Ablehnung der indonesischen Gewaltherrschaft in Osttimor bei der Abstimmung am 28.September in Genf in der UNO- Menschenrechtskommission überdeutlich, in der der Westen eine internationale Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Osttimor forderte, eine Vorstufe für einen internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Osttimor. Die Resolution wurde mit 32 Ja- und zwölf Nein-Stimmen angenommen. Kein einziges asiatisches Land hatte allerdings mit »Ja« gestimmt. Japan hatte sich der Stimme enthalten. Dieses Resultat dürfte der laufenden asiatischen Debatte über die wahren Absichten des Westens zusätzliche Nahrung geben.