Friedensmission – Was genau hatte Orbán in Kiew vor?

Friedensmission – Was genau hatte Orbán in Kiew vor?

von Rainer Rupp

erschienen am 3. Juli 2024 auf RT

Unmittelbar nach seiner Amtseinführung in Brüssel ist Orbán als Vorsitzender des EU-Ministerrats in die Ukraine gereist, um Selenskijs Bereitschaft für Friedensverhandlungen zu sondieren. Zugleich will er die EU-Friedensdiplomatie für europäische Interessen reaktivieren, statt weiter blind und taub Washington zu folgen.

Viktor Orbán ist seit Rekordzeiten mit solider Mehrheit Premierminister in Ungarn und mittlerweile auch der dienstälteste Regierungschef in der EU. Mit Beginn des zweiten Halbjahrs 2024 am 1. Juli ist Orbán auch der Vorsitzende des EU-Ministerrats. Unmittelbar nach seiner Amtseinführung in Brüssel ist er in einer bis zu diesem Zeitpunkt streng geheimen Aktion nach einer elfstündigen Autoreise in Begleitung seiner politischen Berater und einiger Journalisten von Ungarn aus in Kiew eingetroffen. Dort hat er sich am Dienstag, den 2. Juli, mit dem Nicht-mehr-Präsidenten und Amtsusurpator Wladimir Selenskij getroffen, um diesen von der Notwendigkeit einer baldigen Aufnahme von Friedensverhandlungen zu überzeugen.

Vor dem Hintergrund, dass die Beziehungen zwischen Orbán und Selenskij seit Beginn der bewaffneten russischen Sonderoperation im Donbass alles andere als gut waren, unterstreicht diese geheim vorbereitete kreative Friedensmission die Bedeutung, die Viktor Orbán als neuer Präsident des Europäischen Rates einem baldigen Frieden in der Ukraine beimisst.

Der Schweizer Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel hatte das Privileg, im Tross des ungarischen Ministerpräsidenten mitzureisen und mit ihm und seinen Beratern ausgiebig zu sprechen. Wenige Stunden vor dem Orbán-Selenskij-Treffen berichtete Köppel per YouTube-Video, welche Überlegungen und Erwartungen Orbán und sein Team an diese Reise nach Kiew geknüpft hatten.

Laut Köppel hat Orbán ihm persönlich in langen Gesprächen während der Reise deutlich gemacht, dass die Ukraine für ihn ein sehr wichtiges Thema ist. Was ihn beunruhigt und besorgt sei, dass die Europäische Union in diesem Konflikt scheinbar keine Rolle mehr spielt. Die Amerikaner hätten die Führung übernommen, und die Amerikaner, wie auch die Chinesen und Russen, gehörten zu den Gewinnern dieses Krieges, während die Europäer und vor allem die Ukrainer die größten Verlierer sind. Orbán will diesen Gordischen Knoten durchschlagen und Europa wieder als handlungsfähige politische Größe auf die internationale Bühne zurückbringen, so Köppel.

Weiter habe Orbán erklärt, das große Problem in Europa heute sei, dass alle anderen Regierungschefs außer ihm sich weigern, konstruktive Gespräche mit Wladimir Putin zu führen. Sie hätten Putin so sehr dämonisiert, dass sie sich nun hinter ihren eigenen Brandmauern versteckten und eine blockierte Situation geschaffen haben. Orbán wisse, dass er als ein umstrittener Politiker in der Europäischen Union das Eis in der EU allein nicht brechen kann, sondern vielmehr ziele er darauf ab, Selenskij zu überzeugen, eine Friedensinitiative zu ergreifen, um die europäische Blockade zu durchbrechen und Europa zu ermutigen, Gespräche mit den Russen zu führen.

In den bevorstehenden Verhandlungen wolle er Selenskij klarmachen, dass er nur verlieren kann, wenn er Friedensverhandlungen mit Russland weiter verzögert und zugleich Donald Trump bald wieder in den USA an die Macht zurückkehren wird. Allerdings ist Trump – im Gegensatz zu seinen EU-Kollegen – für Viktor Orbán kein Albtraum, sondern das Beste, was der Welt im Moment passieren könnte. Er glaubt auch, dass Trump den Ukraine-Krieg wie versprochen beenden und noch vor Amtsantritt direkt mit Putin diesbezügliche Gespräche beginnen wird. Das wäre keine gute Option für Selenskij, da er dadurch marginalisiert würde und nichts zu gewinnen hätte, wenn er weiter wartet. Selenskij sollte versuchen, noch vor den US-Wahlen eine Initiative zusammen mit Europa zu starten und sich dann mit Putin zu einigen, um noch vor den US-Wahlen Fakten zu schaffen.

Der entscheidende Punkt sei laut Orbán, dass man genau das Gegenteil von dem tun sollte, was die EU-Führer und unsere Medien vorschlagen – dass nämlich Putin zuerst militärisch zurückgeschlagen werden müsste, bevor über Frieden gesprochen werden kann. Dies sei der falsche Ansatz. “Wir brauchen jetzt dringend einen Waffenstillstand, und dann können wir über den Frieden sprechen. Einen stabilen Frieden zu schaffen ist viel schwieriger, als einen Waffenstillstand zu erreichen”, zitiert Köppel den ungarischen Ministerpräsidenten und neuen EU-Ratspräsidenten.

Orbán habe auch schon einen Plan B in der Hinterhand, wenn Selenskij nicht auf diese Idee eines Waffenstillstands eingehen sollte. Dann schlägt Orbán einen Waffenstillstand während der Olympischen Spiele in Paris im Sommer vor, ähnlich wie die alten Griechen, die während der Olympischen Spiele das Kämpfen einstellten. Offensichtlich will Orbán alles versuchen, um den ukrainischen Präsidenten zu einer Initiative zu bewegen, die einerseits Selenskijs Position über einen Waffenstillstand hinaus festigen und selbst gemachte Blockaden in der EU überwinden könnte. Aber solange Selenskij nur eine Marionette der Vereinigten Staaten bleibt, wird er zum Spielball fremder Interessen, so Köppel zum Abschluss seiner Vorschau auf das wenige Stunden später stattfindende Treffen mit Selenskij.

In einem weiteren YouTube-Video einige Stunden später interviewt Köppel Viktor Orbán über den Ausgang der Gespräche mit Selenskij. Einführend bemerkt Köppel, dass er bei der gemeinsamen Pressekonferenz den Eindruck gehabt habe, dass die Atmosphäre zwischen Orbán und Selenskij etwas frostig gewesen sei.

Orbán erklärte, dass er versucht habe, grundsätzlich folgende Dinge zu tun:

“Erstens, das Kapitel der nicht sehr guten Beziehung zwischen der Ukraine und Ungarn zu schließen und zu sagen, dass dies der Vergangenheit angehört und wir in die Zukunft schauen, weil wir viele Dinge gemeinsam zu erledigen haben, Ungarn und die Ukraine, besonders weil wir hier in der Ukraine eine ziemlich große ungarisch-stämmige Gemeinschaft haben, besonders in dem Gebiet der Ukraine, das früher Teil Ungarns war. Diese ungarische Gemeinschaft wurde in der Vergangenheit diskriminiert. Ich sagte, da ihr jetzt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebt und mit den Verhandlungen vorankommen wollt, müsst ihr die sogenannten Kriterien erfüllen, was bedeutet, dass Menschenrechte und Minderheitenrechte respektiert werden müssen. Ihr solltet einen Aktionsplan vorlegen, der gut für die ungarische Minderheit ist. Ich bin bereit, mit euch zu kooperieren, wie ihr einen guten Aktionsplan erstellen könnt, der für euren Verhandlungsprozess hilfreich ist und gleichzeitig gut für die ungarischen Gemeinschaften in der Ukraine.

Das zweite Ziel war, die Situation zu erklären, dass die Zeit knapp wird und der Frieden sehr wichtig ist, weil jeden Tag Hunderte von Soldaten an der Front sterben und wir keine Lösung an der Front sehen. Mein Ziel war es nicht, Selenskij zu überzeugen oder ihm einen Vorschlag zu machen, sondern zu verstehen, was seine Position ist und wo seine Grenzen liegen, wenn wir über Frieden sprechen, weil es meine Absicht ist, dem Europäischen Rat einen Bericht über die Möglichkeit des Friedens zu erstellen. Um die Möglichkeit des Friedens zu erkennen und zu identifizieren, müssen wir zuerst verstehen, wo die Grenzen der anderen sind. Das habe ich heute getan: Klarstellung, ob es eine Chance gibt, die Methode zu ändern, die wir bisher verwendet haben.

Es liegen einige Vorschläge auf dem Tisch, die auf Friedensverhandlungen und Lösungen für den Konflikt abzielen, aber es ist offensichtlich, dass dieser Prozess lang, langsam und kompliziert ist und wir viel Zeit verschwenden. Es dauert Monate oder sogar ein halbes Jahr oder mehr, um einen Plan zu erstellen, der für alle als Verhandlungsbasis akzeptabel ist. Aber wir haben nicht so viel Zeit, weil Menschen sterben. Aus christlicher Sicht ist jeder Tag ein verlorener Tag.

Deshalb war meine Idee, Herrn Selenskij zu fragen, warum wir die Reihenfolge nicht ändern. Zuerst einen Waffenstillstand erreichen, auch wenn es nur ein begrenzter ist, zwei Wochen, drei Wochen, vier Wochen, und zu sagen, dass wir während dieses Waffenstillstands die Verhandlungen über den Friedensprozess beschleunigen können. Waffenstillstand zuerst, dann Frieden. So können wir den Prozess beschleunigen, der uns zum Frieden führen könnte.

Selenskij hat darauf geantwortet, er habe einige Zweifel an dem Vorschlag und war nicht sehr glücklich darüber. Er sagte, lasst uns darüber nachdenken, lasst uns darüber nachdenken. Er habe einige schlechte Erfahrungen mit früheren Waffenstillständen gemacht, die seiner Meinung nach nicht gut für die Ukraine waren. Er erklärte seine Grenzen, und wir werden sehen, wie es weitergeht … Insgesamt denke ich, dass wir heute einen Schritt nach vorne gemacht haben und morgen einen weiteren machen werden.”

Hier bring Köppel noch eine letzte Frage an:

“Sie sagten in einem Interview mit ‘Weltwoche’ vor einem Jahr, dass Ihre wichtigste Beobachtung während des Ukraine-Krieges war, dass die Europäische Union als außenpolitisch aktive Macht im Grunde nicht existiert. Sie sind jetzt Präsident des Europäischen Rates. Was muss Ihrer Meinung nach am dringendsten geschehen, damit Europa in dieser Krise, die für Europa so wichtig ist, wieder das Steuer übernimmt?”

Orbán:

“Alles hängt von den großen Führern der Europäischen Union ab. Wenn die Deutschen, Franzosen und Italiener nicht zusammenkommen und Entscheidungen treffen und Vorschläge für die anderen machen, verschwinden wir langsam von der internationalen Bühne … Ich war in Berlin, Rom und Paris, so habe ich diese Friedensmission begonnen, um die Führer zu überzeugen, dass sie die Führung übernehmen sollten. Andernfalls wird Europa auf der internationalen Bühne überhaupt nicht mehr erscheinen.”