Gefährliche Lektionen aus Kosovo-Krieg
von Rainer Rupp
erschienen am 22.09.1999 in der Jungen Welt
NATO-Kriegsministertreffen in Toronto. USA setzen Europäer zunehmend unter Druck
Am Dienstag begann im kanadischen Toronto die zweitägige informelle Herbsttagung der NATO-Kriegsminister. Dem Vernehmen nach standen drei Schwerpunkte auf der Tagesordnung: erstens eine Verringerung der NATO-SFOR in Bosnien von 30 000 auf 20 000 Mann. Ferner wollen die Minister beraten, welche Lehren aus ihrem Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu ziehen sind. Und drittens ging es darum, wie »das Profil der Europäer innerhalb des Bündnisses geschärft werden kann«. Hinter dieser griffigen Formel steckt nichts anderes als neue europäische Aufrüstungsprogramme, die u. a. auch die Beschaffung von High-Tech-Waffen aus Amerika vorsehen.
Vorab war aus Toronto zu erfahren, daß angesichts der Lasten, die das Kriegsbündnis in Kosovo trägt, die Missionen der KFOR im Kosovo und der SFOR in Bosnien rationalisiert werden sollen. Beabsichtigt ist, die militärische Ausrüstung und den Nachschub zentral zu lagern, so daß beide Truppenkontingente davon profitieren können. Ein Blick auf die Karte verrät, daß als zentrale Basis höchstwahrscheinlich nur Albanien in Frage kommt.
Welche höchst gefährlichen Lehren die übrigen NATO- Staaten aus dem Kosovo-Krieg ziehen sollen, das hat die tonangebende NATO-Supermacht bereits vor dem Ministertreffen in Toronto verkündet. Anläßlich einer Konferenz des Instituts für Internationale und Strategische Studien am 9. September in Kalifornien hatte US- Kriegsminister Cohen in seiner Rede die Schlußfolgerungen des Pentagon präsentiert. Demnach hat der Kosovo-Krieg die Notwendigkeit deutlich gemacht, daß die politische Führung der NATO noch mehr Zuständigkeiten und Verantwortung auf die militärische Führung übertragen muß. Das, obwohl inzwischen auch offiziell der wahnsinnige Befehl des amerikanischen Oberbefehlshabers von NATO-Europa, im Kosovo mit Waffengewalt die Russen vom Flughafen in Slatina zu vertreiben, bekannt ist.
O-Ton Cohen in Kalifornien: »Die alliierten Streitkräfte erinnern uns, daß der Konsens einerseits das Herz einer Koalition ist und zu anderen Zeiten ihre Behinderung verursacht. Es wurde (während des Krieges – R. R.) sehr schnell klar, daß die NATO ihre bestehende politische Maschinerie neu auslegen muß, um unter dem Stakkato-ähnlichen Zeitdruck der militärischen Entscheidungen effektiver zu sein.« Sicherlich dachte Cohen dabei auch an den NATO-internen Disput mit Frankreich während des Kosovo-Krieges, von dem die »International Herald Tribune« am 17. 9. aus Paris berichtete: »Widersprüche aus den Reihen einiger alliierter Europäer, hauptsächlich von Frankreich, verzögerten die NATO-Angriffe auf Brücken, Elektrizitätswerke und andere Ziele der wirtschaftlichen Infrastruktur.«
Worauf die USA mit ihrer Forderung nach einer »besser angepaßten politischen Struktur in der NATO« (Cohen) scheinbar abzielen, das machte die ARD-Tagesschau am 16. 9. deutlich, als sie aus einer vertraulichen, internen Studie des NATO-Hauptquartiers in Brüssel zitierte. Demnach soll im nächsten NATO-Krieg (man scheint schon fest damit zu rechnen) der politische Verteidigungsplanungsrat der NATO (DPC), der aus den Vertretern der 19 NATO-Mitgliedsländer besteht, durch eine Art kleinen, aber durchschlagenden Kriegsrat ersetzt werden, in dem die bedeutendsten kriegführenden Mächte vertreten wären.
»Die NATO muß noch einiges mehr tun, um zeitig für den nächsten Konflikt effektiver zu sein«, forderte US- Kriegsminister Cohen in Kalifornien. »Deshalb haben die Führer der NATO auf dem Gipfel in Washington im April dieses Jahres die >Initiative zur Verteidigungsfähigkeit< verabschiedet. Mit dieser Initiative sind wir übereingekommen, Streitkräfte zu entwickeln, die mobiler sind, … die länger auf sich allein gestellt operieren können, denen logistische Systeme jederzeit und überall dort zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden.«
Der beisitzende US-Verteidigungsminister Frank Kramer ließ in einer Presseanweisung vom 15. 9. in Washington wissen, daß alle Europäer sich prinzipiell zur Beschaffung von neuen hochentwickelten Waffen verpflichtet haben. »Sie müssen sich nun entscheiden, was, wieviel, wann und von wem sie kaufen. … In den meisten Fällen werden die präzisionsgesteuerten Waffen, besonders die aus der Luft abgefeuerten, in den USA hergestellt. Also ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie in den USA kaufen werden, wenn sie überhaupt kaufen.«
Die neue Kriegsmaschinerie und die neuen Militärstrukturen sollen das Neue Strategische Konzept der NATO (NSK) materiell unterfüttern. Das NSK ist nämlich ganz und gar auf die Projektion der militärischen Macht der NATO außerhalb ihrer territorialen Grenzen ausgerichtet, in die Weiten des »euro-atlantischen Raums«, wie es in der offiziellen Lesart heißt. Dieser Raum beginnt mit Kamtschatka an der russischen Pazifikküste, erstreckt sich dann nach Westen über Osteuropa, aber auch nach Süden über das Kaspische Meer bis hin zum Persischen Golf, um dann weiter über den Mittelmeerraum nordwestlich auch Westeuropa einzuschließen. Und natürlich gehören der Atlantik und die USA bis zur pazifischen Westküste ebenfalls dazu. Die in diesem Bereich liegenden Out-of-Area-Gebiete, also Nicht-NATO-Länder, sind die zukünftigen potentiellen Schlachtfelder für die »humanitären Kriege« der NATO, mit deren Hilfe die geostrategischen und ökonomischen Interessen des Großkapitals ihrer Mitgliedsländer durchgesetzt werden sollen.