Hohe Kunst der Hypokrisie

Hohe Kunst der Hypokrisie

von Rainer Rupp

erschienen am 10.12.1999 in der Jungen Welt

Betrugsmanöver mit Scheinheiligkeit gegenüber Rußland

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem südafrikanischen Amtskollegen Patrick Lekota wurde US- Verteidigungsminister William Cohen am Dienstag in Washington von einem Journalisten genervt, der unbedingt wissen wollte, ob »die Russen in Tschetschenien gegen die Genfer Konvention verstoßen«, und ob das, was dort passiert, »mit ethnischer Säuberung« umschrieben werden kann.

»Ich bin nicht bereit, darüber zu urteilen, ob hier ein Verstoß gegen die Genfer Konvention vorliegt. Das überlasse ich anderen.« Und »die anderen« ließen nicht lange auf sich warten. Am Mittwoch schickte der deutsche Kosovo-Kriegskanzler Gerhard Schröder eine Botschaft an Präsident Boris Jelzin und Ministerpräsident Wladimir Putin, in der er den Tschetschenien-Krieg als »völkerrechtswidrig« bezeichnete. Der heuchlerische deutsche Kriegsherr, der im NATO-Verbund mitten in Europa unprovoziert den Befehl zum Angriff auf einen souveränen Staat gab, ermahnt die Führung der russischen Kleptokratie, weil diese im Begriff ist, mit brutaler Gewalt einen selbsterklärten separatistischen Terrorstaat auf russischem Boden auszulöschen. Zumindest formal hat Moskau noch nicht gegen das Völkerrecht verstoßen.

Woher die Berliner Regierung, die im Falle Jugoslawiens Völkerrecht und Genfer Konvention hochmütig und rechthaberisch mit Füßen trat, die Unverfrorenheit hernimmt, ihre russischen »Kollegen« zu kritisieren, ist atemberaubend. Der Vorgang widerspiegelt jedoch nur die maßlose moralische Selbstüberschätzung, die seit der deutsch-deutschen Vereinigung bei den herrschenden Schichten unserer Republik Einzug gehalten hat.

Die Hypokrisie, die hohe Kunst der Verstellung, der Scheinheiligkeit und Heuchelei, wird von den bis zum Hals im Sumpf der Korruption steckenden Eliten zur maßgeblichen Devise, sowohl für die Innenpolitik im Umgang mit der DDR und der deutsch-deutschen Geschichte als auch für die Außenpolitik, wo der Krieg als anderes Mittel zur Fortführung der Politik offiziell wieder entdeckt und angenommen worden ist. Es verwundert daher nicht, daß es die Bundesregierung als »infam« empfindet, wenn die »Kriegführung Rußlands in Tschetschenien mit den europäischen Militäraktionen im Kosovo gleichgesetzt oder aufgerechnet« würde. Außenminister Joseph Fischer empörte sich bei einem Treffen mit seinem russischen Kollegen Igor Iwanow in Mailand über das russische Vorgehen: eine »kollektive Gewaltandrohung« gegenüber einer ganzen Stadt sei nicht hinnehmbar. Schröder will, daß die internationalen Kredite an Rußland auf Eis gelegt werden, was der Sprecher des Weißen Hauses, Joe Lockhart, jedoch zurückwies. Dies würde »die Bemühungen hemmen, die Demokratie in Rußland zu fördern«.

Die hohe Kunst der Hypokrisie ist hierbei einmal mehr am Werk. Die »Sorge um die Demokratie« wird vorgeschoben, um die handfesten finanziellen Interessen mächtiger Kreise zu sichern. Von den neuen Krediten, die Rußland vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gewährt werden, sieht Moskau ohnehin nichts. Die Gelder bleiben außerhalb des Landes und werden auf westlichen Banken zur Zahlung der russischen Zinsen lediglich umgebucht.

Auch hier ist wieder ein großes Betrugsmanöver im Gang. Nach der alten kapitalistischen Devise gehen Spekulationsgewinne in die private Tasche, Spekulationsverluste werden dagegen weitgehend sozialisiert, also auf die Steuerzahler abgewälzt. So werden auch im laufenden Betrugsmanöver mit Hilfe von Steuermitteln der IWF-Mitgliedsländer Kredite zur Verfügung gestellt, damit Rußland die Zinsen für die Finanzspekulationen der westlichen Banken im Osten bezahlen kann. Ohne IWF-Hilfe müßte Rußland den Staatsbankrott anmelden, und die westlichen Banken müßten ihre Kredite abschreiben, was womöglich zu einer neuen weltweiten Finanz- und Börsenkrise führen könnte. Deshalb wird das internationale Finanzkapital keiner demokratisch gewählten Regierung eines NATO- Landes erlauben, Rußland die Finanzkredite zu stoppen – soweit reicht die Sorge um die Demokratie.