Hohes Risiko – wenig Gewinn
von Rainer Rupp
erschienen am 28.03.1998 in der Jungen Welt
Amerikanische Sicherheitsexperten kritisieren NATO-Ostexpansion
Nachdem die Gremien der NATO die Aufnahme der »ost- europäischen Reformstaaten« bereits beschlossen haben, müssen nunmehr die Mitgliedsländer des Bündnisses in ihren nationalen Parlamenten diese Entscheidung absegnen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem amerikanischen Senat zu, wo nach einer erneuten Verschiebung Anfang April abgestimmt werden soll.
Die europäische Linke findet in ihrer Ablehnung der NATO-Expansion unerwartete Unterstützung in den USA, sowohl von liberalen als auch von konservativen sicherheitspolitischen Experten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Anhänger einer starken NATO befürchten den Verlust ihrer Funktionsfähigkeit; Liberale sorgen sich um eine neue Eiszeit im amerikanisch- russischen Verhältnis, auch zum Nachteil von Interessen der USA in Drittländern. Und US-Konzerne ängstigen sich um ihren ungehinderten Zugang zum russischen Markt. Trotzdem will Clinton die Ratifizierung der Expansion möglichst schnell im US-Senat durchpeitschen, solange dort die Zeichen günstig stehen.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß der Expansionsbeschluß der Clinton-Regierung auf keinerlei stichhaltiger sicherheitspolitischer Analyse beruht. Er kam vielmehr aus innenpolitischen, d. h. wahltaktischen Gründen zustande. Besonders mit Blick auf die zahlreichen Amerikaner polnischer Abstammung gab Präsident Clinton vor der letzten Wahl das Versprechen, sich für die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik in die NATO einzusetzen. Seitdem hat sich diese vorschnell getroffene Entscheidung verselbständigt und ist auf Grund amerikanischen Drucks zur offiziellen NATO-Politik geworden. Eine Nicht-Ratifizierung der NATO-Expansion durch den US-Senat wäre deshalb eine einzigartige internationale Blamage für die Clinton-Regierung. Die Probleme und Gefahren der NATO-Expansion aus amerikanischer Sicht hatte die angesehene New York Times (NYT) in den letzten Monaten mit einer Serie von kritischen Artikeln beleuchtet. Dabei wurde auch deutlich, daß viele überzeugte Anhänger der NATO, wie z. B. Sam Nunn, ehemaliger US-Senator und Verteidigungsminister, die Ostexpansion strikt ablehnen. Gemeinsam mit einer imposanten Riege von namhaften Sicherheitsexperten schrieb er in der NYT, daß die Expansion »ein Rezept zur Zerstörung der NATO« ist. Und George Kennan, der als der Architekt der Containment-(Eindämmungs-)Strategie der USA gegen die Sowjetunion während des Kalten Krieges gilt und in Amerika nach wie vor höchstes Ansehen genießt, bezeichnete kürzlich im National Interest Magazin die Ostexpansion der NATO als »historische Dummheit«.
Kosten im Mittelpunkt der Diskussion
Die amerikanische Verfassung verlangt, daß die 100 Senatoren mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit außenpolitische Verträge ratifizieren. Um den Senatoren die Entscheidung zu erleichtern, sollen die Verträge und ihre Bedeutung für die USA und deren Sicherheit eingehend im Senatsausschuß für Auswärtige Beziehungen durchleuchtet werden. Trotz eines vielversprechenden Anfangs geschah das aber diesmal im Fall der NATO-Expansion nicht, so daß die NYT sogar den Ausschuß ermahnte, daß die »Verfassung mehr von ihm verlangt, als er zur Zeit bietet.« Anfang März hatte sich der Ausschuß nämlich mit 16 gegen zwei Stimmen für die Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien entschieden. Die Bedenken weiter Kreise der amerikanischen außen- und sicherheitspolitischen Elite gegen die NATO-Expansion waren im Senatsausschuß kaum diskutiert worden. Die meisten Senatoren beschäftigen sich – genau wie der allergrößte Teil der US-Bürger – mit Außenpolitik höchstens am Rande. Zum Zweck der Wiederwahl kann ein Senator mit diesem Thema keinen Blumentopf gewinnen. Anders sieht das bei der Kürzung der Staatsausgaben aus, wo die beiden Parteien und ihre Repräsentanten versuchen, sich gegenseitig zu überbieten. Und deshalb konzentrierte sich die Aufmerksamkeit des Auswärtigen Senatsausschusses auf die Kosten der NATO-Expansion. Vor allem der Kostenbeitrag der USA mußte niedrig sein, weshalb die befriedigende Lösung dieser Frage zum Schlüsselkriterium für die Zustimmung des Ausschusses zur Ostexpansion wurde. Als erstes hatte das Budget Office des US-Kongresses (CBO) die Kosten der Expansion auf 125 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von 15 Jahren geschätzt. Auf Grund des Widerstandes, der sich daraufhin im Senat erhoben hatte, »schätzte« das Pentagon die Kosten bereits auf nur noch auf 27 Milliarden Dollar über 13 Jahre. In einer aufschlußreichen Analyse des Zustandekommens der verschiedenen Zahlenwerke zu den Kosten der NATO-Expansion zitierten die Professoren Perlmutter und Carpenter in den angesehenen Foreign Affairs Anfang dieses Jahres einen hohen Regierungsbeamten zur Berechnungsmethode des Pentagon: »Jeder wußte, daß eine niedrige Kostenschätzung beim Pentagon höchste Priorität hatte, sowohl um den Senat als auch um die Russen zu beruhigen. (…) Es bestanden starke politische Sachzwänge, niedrige Zahlen vorzulegen.« (Foreign Affairs, Jan./Febr. 1998).
US-Multis fürchten neue Eiszeit
Alarmiert mußte dann jedoch die Clinton-Regierung feststellen, daß selbst die niedrigen Zahlen des Pentagon dem Senat immer noch zu hoch waren. In einer neuen Wende im Possenspiel wartete das Generalsekretariat der NATO pünktlich zur Herbsttagung der NATO-Minister in Brüssel Ende letzten Jahres mit einer neuen Kostenschätzung auf, die nun zwecks Präsentation für den Senat vom Pentagon offiziell übernommen wurde; mit der entschuldigenden Erklärung, man wäre vorher von einigen jetzt nicht mehr zutreffenden Annahmen ausgegangen. Demnach soll die gesamte NATO- Ostexpansion nur noch 1,5 Milliarden Dollar über 10 Jahre verteilt kosten, wobei der Anteil der USA aus der Portokasse bezahlt werden könnte. Der Zweck dieser Zahlenspielerei war denn aber doch allzu offensichtlich, was den bekannten amerikanischen Kommentator Thomas L. Friedmann kürzlich in der NYT zu der sarkastischen Frage veranlaßte, wieso es dazu kommt, »daß mit jedem Tag, mit dem die Abstimmung im Senat näher rückt, die NATO-Expansion billiger wird«. Ungeachtet dessen hat nun der Ausschuß der Expansion zugestimmt und somit eine eindeutige Empfehlung für das Abstimmungsverhalten der übrigen Senatsmitglieder gegeben.
Noch blieb eine schwache Hoffnung. 16 Senatsmitglieder hatten sich nach der Ausschußentscheidung dafür ausgesprochen, die Ratifizierung auf Mitte des Jahres zu verschieben, damit noch genügend Zeit für eine tiefergehende Debatte bliebe. Daß ausgerechnet hartgesottene Verfechter einer starken NATO gegen deren Ostexpansion waren, hatte doch zumindest einige Senatoren nachdenklich gestimmt. Sam Nunn und eine Reihe anderer hatten gewarnt, daß durch die Expansion »der Karren vor das Pferd gespannt würde«. Indem neue Mitglieder und Verantwortungen »jenseits vernünftiger Grenzen« übernommen würden, würde der »innere Zusammenhalt der Allianz« gefährdet. Durch die Ostexpansion würde nämlich nicht nur »die Feindschaft Rußlands wiederbelebt, sondern zugleich auch die Fähigkeit der Allianz geschwächt, dieser zu begegnen«, denn die NATO werde notgedrungen in eine Organisation verwandelt, »in der Verpflichtungen verwässert und ihre Durchsetzungskraft in Frage gestellt würde« – also: ein Rezept zur Zerstörung der Allianz. Und wer die inneren Mechanismen der NATO kennt, der weiß, daß Sam Nunns Sorgen über den möglichen Zerfall der NATO nicht aus der Luft gegriffen sind. Wegen der Verdauungsschwierigkeiten, die sich die NATO im Zuge ihrer Expansion zuziehen wird, könnte sich das Problem der europäischen Linken mit der NATO von selbst lösen.
Aber nicht nur amerikanische sicherheitspolitische Strategen, die langfristig um die durch die NATO garantierte Führungsrolle der USA auf dem europäischen Kontinent fürchten, sondern auch Wirtschaftsunternehmen mit Interesse am russischen Markt sind gegen die NATO-Ostexpansion. Letztere, so wird argumentiert, würde nationalistischen Kräften in Moskau Auftrieb geben, die die Demokratisierung stoppen und – noch schlimmer – die Marktwirtschaft abwürgen sowie die Ost-West-Beziehungen einfrieren würden. Im Unterschied zu den großen US- Rüstungsunternehmen, die in der Hoffnung auf einen lukrativen Waffenmarkt in den NATO-Beitrittländern eine Werbekampagne für die Ostexpansion finanzieren, sind besonders die amerikanischen Öl- und Rohstoffkonzerne, aber auch international operierende Unternehmen der Konsum- und Gebrauchsgüterindustrie dagegen. In Rußland warten riesige Chancen und Gewinne und deshalb sind sie hauptsächlich an einer zügigen Entwicklung der dortigen Marktwirtschaft interessiert. Die NATO-Expansion stört dabei nur. Deshalb wurde die NYT in den letzten Monaten nicht müde in ihren Artikeln gegen die geplante Osterweiterung immer wieder zu betonen, daß »die zukünftige politische, militärische und ökonomische Stabilität Europas im wesentlichen davon abhängt, ob Rußland den Übergang zur Demokratie und Marktwirtschaft schafft«. Aber je näher die NATO an die Grenzen Rußlands vorrücke, desto stärker würde Rußland »seine legitimen Sicherheitsinteressen gefährdet sehen und um so feindseliger reagieren«.
Dieser Punkt bringt eine dritte Gruppe von amerikanischen Expansions-gegnern ins Spiel. Besorgt verfolgen sie, daß sich Moskau zur Verteidigung seiner Landesgrenzen auf Grund der NATO-Expansionspolitik nun verstärkt auf Nuklearwaffen verläßt. Im vergangenen Jahr hat Rußland erklärt, daß es sich auch im Falle eines rein konventionellen Angriffs auf sein Territorium den Ersteinsatz von Atomwaffen vorbehält. Damit ist Moskau von seiner bisherigen Doktrin abgewichen und droht – genau wie die NATO schon immer – im Falle eines Konfliktes mit dem nuklearen Erstschlag und mit allen seinen unabsehbaren Folgen.
Keine Bedrohung der Sicherheitsinteressen
Und: Atomwaffen sind noch genug da. Wegen der Expansionsgelüste der NATO liegt die Ratifizierung des START-II-Vertrages zur weiteren Abrüstung der strategischen Nuklearwaffen, von denen Rußland allein immer noch 7500 hat, in der russischen Duma auf Eis. Auch in anderen Bereichen von strategischer Bedeutung für die Rüstungs- und Proliferationskontrolle hat sich in letzter Zeit die russisch-amerikanische Zusammenarbeit verschlechtert, z. B. bei der Kontrolle und dem Management von potentiell vagabundierendem russischen Nuklearmaterial. Vollkommen unverständlich erscheint deshalb der NYT, »warum der Clinton-Regierung die Mitgliedschaft Ungarns in der NATO wichtiger ist als die gute Zusammenarbeit mit Rußland, die für Amerika von vitaler Bedeutung ist«.
In einer Beziehung sind sich fast alle amerikanischen außenpolitischen Experten – mit Ausnahme der von der Clinton-Regierung bezahlten – einig: Rußland kann die NATO-Expansion zwar nicht verhindern, aber das bedeutet nicht, daß diese nicht ohne negative Folgen bleibt. Michael Mandelbaum von der renommierten John Hopkins University in Washington DC warnte kürzlich, daß Rußland immer noch ein großes Land und wichtig ist; »es hat viele Möglichkeiten, in der Welt Hebel anzusetzen, um dort unsere (amerikanischen) Absichten zu durchkreuzen; nicht etwa mit militärischen Drohungen oder Gewaltanwendung, sondern einfach dadurch, daß Rußland bei der >freiwilligen Feuerwehr< nicht mitmacht!«
Mandelbaum dürfte damit all jenen aus dem Herzen gesprochen haben, die in Rußland schon lange keine ernsthafte Bedrohung amerikanischer Sicherheitsinteressen mehr sehen. Statt dessen erwächst die hauptsächlich aus regionalen Krisen und der wachsenden Gefahr terroristischer Anschläge mit Massenvernichtungswaffen. Deshalb sind die widersprüchlichen Signale, die die Clinton-Regierung nach Moskau schickt, absolut unverständlich. Die NYT drückte das so aus: »Im Mittleren Osten müßt ihr euch als unsere strategischen Partner verhalten, aber in Europa müßt ihr akzeptieren, daß ihr immer noch unsere Hauptfeinde seid!« Die widerwillige Hinnahme der NATO-Expansion durch Boris Jelzin würde von Clinton mit der »permanenten Akzeptanz der Fakten verwechselt«. »Im Moment allerdings hat Jelzin mißmutig die Ost-Expansion als Preis für Harmonie mit dem Westen und für dessen finanzielle Unterstützung angenommen. (…) Jelzins Nachfolger könnten sich dagegen weniger kooperativ zeigen.«
Ohne Rußland geht gar nichts
Wie sehr jedoch die Eindämmung regionaler Krisen von Moskaus Kooperation abhängt, zeigt sich nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch im Balkankonflikt. Die jüngsten Zuspitzungen im Kosovo drohen die ganze Region in Flammen zu setzen, eine Region, auf deren Boden bereits amerikanische und deutsche Soldaten stehen. Ohne Moskau oder gar gegen Moskau wird auch die geballte Macht der NATO diese Region nicht beruhigen können.
All diese Überlegungen spielten in der bisherigen Debatte im US-Senat so gut wie keine Rolle. Da das außenpolitische Prestige seiner Regierung auf dem Spiel steht, drängt Clinton auf eine schnelle Entscheidung des Senats. Durch einen geschickten Schachzug ist es ihm nun gelungen, daß der Senat bereits am18. März die Debatte eröffnete. Das Ergebnis dürfte jetzt schon feststehen.