Kriegstreiber in Bedrängnis

Kriegstreiber in Bedrängnis

von Rainer Rupp

erschienen am 04.11.1999 in der Jungen Welt

Parlamentsausschuß befragt britischen Außenminister wegen Lügen im Jugoslawien-Krieg

Der britische Außenminister Robin Cook gerät zunehmend unter Druck. Selbst in den Reihen der Labour-Party wird dem Sozialdemokraten vorgeworfen, mit seinen Behauptungen vom serbischen Völkermord an Kosovo-Albanern wissentlich gelogen zu haben, um so die öffentliche Meinung für den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu gewinnen. Mitglieder des parlamentarischen Allparteienausschusses in Westminster wollen noch diese Woche vom britischen Außenministerium Antwort auf die Frage, warum die Zahl der tatsächlich gefundenen toten Kosovo-Albaner nur einen kleinen Bruchteil der vom Foreign Office vor und während des Krieges verbreiteten Zahlen ausmacht.

Auch in Großbritannien hat die Analyse des amerikanischen Stratfor Intelligence Center Aufmerksamkeit erregt, wonach die Zahl der im Kosovo gefundenen Toten um etliche Größenordnungen unter den von der NATO propagierten Angaben liege (vgl. jW vom 28. und 29. 10. 1999). »Hunderte, nicht Tausende« Leichen sind Stratfor zufolge von gerichtsmedizinischen Teams bisher gefunden worden. In vielen angeblichen Massengräbern haben darüber hinaus niemals Leichen gelegen.

In der altehrwürdigen »Sunday Times of London« setzte sich am vergangenen Wochenende neben Nicholas Rufford vor allem Jon Swain mit der Stratfor-Analyse und weiteren Berichten auseinander. Da Swain während des Krieges selbst zu dessen eifrigen Befürwortern gehört hatte, vollführte er einen wahren Eiertanz. Einerseits wurden die Stratfor-Ergebnisse nicht in Zweifel gezogen, andererseits galt es, den NATO-Bombenterror gegen jugoslawische Zivilisten doch auch zu rechtfertigen.

In diesem Zusammenhang ist das von Rufford zitierte Interview von Emilio Perez Pujol, dem Leiter des spanischen gerichtsmedizinischen Teams im Kosovo, mit der spanischen Tageszeitung El Pais besonders interessant. Der Pathologe ist kürzlich aus der südserbischen Provinz nach Spanien zurückgekehrt – total desillusioniert, was seinen Arbeitsauftrag betrifft. Pujol schätzte, daß im Kosovo nicht mehr als 2 500 Zivilisten während des gesamten Krieges umgekommen sind, und daß diese Zahl »viele Todesfälle enthällt, für die niemand persönlich schuldig gemacht werden kann«, die also Resultat des Krieges sind.

In seinem freimütigen Interview beschwerte sich Pujol über den Einsatz seines Teams von Gerichtsmedizinern und Polizeiexperten im nördlichen Kosovo. Es dauerte nicht lange, bis er erkannte, daß das, was der Öffentlichkeit als »Suche nach Massengräbern« verkauft wurde, in Wirklichkeit nichts anderes war als »eine semantische Pirouette der Propagandamaschinen des Krieges«. »Wir haben kein Massengrab gefunden – nicht ein einziges«, erregte sich Señor Pujol, der darauf vorbereitet worden war, mindestens 2 000 Leichen zu exhumieren. Das spanische Team hatte damit gerechnet, dafür etwa zwei einhalb Monate zu brauchen. Aber Mitte September, nachdem es an einem Ort 97 Leichen ausgegraben hatte, die keinerlei Zeichen von Verstümmelungen oder von Folterung zeigten, sondern deren Tod durch Granat- und Bombensplitter oder Gewehrkugeln verursacht worden war, zogen Pujol und sein Team zurück nach Hause.

»Ich rief meine Leute zusammen und sagte: >Wir sind hier fertig.< Ich informierte meine Regierung und erklärte ihnen die tatsächliche Situation. Wir hatten insgesamt 187 Leichen gefunden, davon 97 an einem Ort, acht an einem anderen, vier weitere wieder woanders und so weiter. Vier oder fünf waren an natürlichen Ursachen gestorben.«

Auch die Nachforschungen Swains scheinen dieses eher ernüchternde Bild zu bestätigen. So schrieb er in der »Sunday Times«, daß das britische gerichtsmedizinische Team zwar die bisher meisten Tote gefunden habe. Insgesamt aber »nur« 505 Leichen in einer Gegend, wo angeblich die »schlimmsten Massenmorde passiert sein sollen«. Wie viele davon hingerichtet worden und wie viele Opfer des Krieges, auch der NATO-Bomben, sind, bleibt leider offen. Sicherlich mit Absicht. Denn so fiel es Swain leichter, auf den Greuelgeschichten zu beharren, die von den Flüchtlingen »so anschaulich« erzählt worden seien. Deren Zeugenaussagen scheinen »eindrücklicher« als alle Angaben über tatsächlich gefundene oder nicht gefundene Leichen zu sein. Daraus schloß der Autor, daß die serbischen Sicherheitskräfte trotzdem »Greueltaten in einer Größenordnung verübt hätten, die nur durch einen militärischen Eingriff hätten gestoppt werden können«.

Die »Qualität und die Art und Weise der serbischen Angriffe« sei wichtiger für den NATO-Krieg gewesen als die Zahl der Toten, argumentierte Swain. Davon dürften auch die »Revisionisten« unter den Leichenzählern nicht ablenken, die niedrigere Zahlen angeben. Ein Seitenhieb gegen das Stratfor-Papier, in dem die Frage nach der Anzahl der Toten von zentraler Bedeutung ist. Stratfor zufolge gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Hunderten von Toten, die im Rahmen einer Repressionsmaßnahme – etwa zur Terroristenbekämpfung – sterben und einem genozidartigen tausenfachen Massenmord.

»Schade« sei es nur, so Swain in einer Meisterleistung der Apologetik, daß die NATO und westliche Politiker »mit ihren leidenschaftlichen Rechtfertigungen für den Krieg gegen Serbien zur Beendigung der Greueltaten etwas zu weit gegangen sind«. Die NATO hätte die Tendenz gehabt, von »einem systematischen Genozid im Kosovo« zu sprechen. »Es gab aber keinen Genozid im Kosovo. Es war unehrlich und falsch von den westlichen Politikern, diesen Begriff zur Untermauerung der moralischen Autorität ihres Unternehmens zu benutzen.« Dies habe »den Ruf der NATO, für Wahrheit und Gerechtigkeit zu stehen, beschädigt«, beklagte Swain.

Alice Mahon, linke britische Labour-Abgeordnete in Westminster und Vorsitzende des Allparteienausschusses für den Balkan, wird als ausgesprochene Kritikerin des NATO-Krieges sicherlich weniger behutsam mit ihrer Regierung umgehen. Sie hatte bereits während des Krieges Belgrad besucht. Für sie sind die zivilen Toten im Kosovo eine Tragödie, sie rechtfertigten aber keineswegs den NATO-Angriff. »Wenn man bedenkt, daß 1 500 Zivilisten durch NATO-Bomben getötet worden sind, dann muß man sich fragen, ob die Intervention gerechtfertigt war.«