NATO in der Kosovo-Falle

NATO in der Kosovo-Falle

von Rainer Rupp

erschienen am 17.02.1999 in der Jungen Welt

Entgegen westlichem Zweckoptimismus ist weiterhin keine Lösung auf dem Balkan in Sicht.

Als die Delegationen der Jugoslawen und Kosovo-Albaner am 7. Februar 1999 in Rambouillet eintrafen, wurden sie von dem französischen Präsidenten Jacques Chirac ermahnt: »Wir wollen Frieden auf unserem Kontinent«. Die Kontaktgruppe verfüge »über ausreichende Mittel, so daß Recht, Gerechtigkeit und Frieden triumphieren« könnten. Was aber, wenn die beiden Gegner den vorgefertigten Plan nicht akzeptieren wollen? Wenn der Plan, trotz gegenteiliger Beteuerung, doch nur eine verhüllte Vorbereitung für die Sezession des Kosovo von Serbien ist? Nicht nur der jugoslawische Präsident Milosevic hat unterstrichen, daß dies für die serbische Regierung unannehmbar ist. In Serbien würde für immer der Makel auf dieser Regierung und ihrem Präsidenten lasten, das »heilige« Stammland der Serben verkauft zu haben.

Nun wird am Rande von Rambouillet die These gehandelt, daß die serbische Regierung wohl weiß, daß das Kosovo auf Dauer nicht zu halten ist. Es jedoch in den Verhandlungen aufzugeben, käme einem politischen Selbstmord gleich. Folgerichtig, so die zynischen Überlegungen, müßte Präsident Milosevic es vorziehen, es auf einen Kampf ankommen zu lassen, in dessen Verlauf das Kosovo den Serben von der übermächtigen NATO mit Gewalt entrissen wird. Er könnte dann die Schuld an der Entwicklung einzig und allein der NATO in die Schuhe schieben, und die Region würde auf lange Zeit nicht zur Ruhe kommen. Kein NATO-Soldat vor Ort wäre mehr seines Lebens sicher.

Diese Überlegungen, logisch zu Ende gedacht, bedeuten aber nichts anderes, als daß die von der Kontaktgruppe und der NATO aufgebaute Drohkulisse, die selbst von den führenden Grünen-Politikern als notwendig erachtet wurde, um Friedensverhandlungen zu erzwingen, letztendlich nur Präsident Milosevic hilft, aus einer hoffnungslosen innenpolitischen Situation zu entkommen, indem er sich gegen eine Verhandlungslösung in Rambouillet sperrt.

Schwer verdaulich

In diesem Fall stünde dann die NATO vor einem großen Dilemma. Keine der möglichen Optionen wäre für die westliche Kriegsallianz leicht verdaulich. Eine davon wäre, das Kosovo zum NATO-Protektorat zu erklären. Die NATO- Luftwaffe würde serbische Operationen im Inneren des Kosovo angreifen. Da es zu gefährlich wäre, würden NATO- Bodentruppen nicht entsandt. Vielmehr würde der Bodenkampf von der UCK erledigt, die so zu ihrer Unabhängigkeit käme. Die NATO würde somit zur Luftwaffe der terroristischen UCK werden.

Eine solche Entwicklung würde allerdings nicht nur gegen alle internationalen Rechtsgrundsätze verstoßen, sondern auch für eine Ausweitung der Unruhen in den albanischen Gebieten in den Nachbarländern Serbiens sorgen. Die Tatsache, daß dadurch das Kosovo »von der NATO gestohlen« würde, sorgte so noch für zusätzlichen Ärger auf dem Balkan.

Eine andere theoretische Möglichkeit wäre, daß die Kontaktgruppe und die NATO sich nach dem Motto »fernes, unbedeutendes Land, für das wir keine Lösung finden« distanzieren würden. Die Serben und die Kosovo-Albaner könnten dann solange weitermachen, bis sie vom Krieg die Nase voll hätten. Diese Option würde jedoch für die NATO, besonders für die Hauptmächte, einen unakzeptablen Gesichtsverlust bedeuten, der die imperialen Pläne für ein weltweites Eingreifen der NATO im Rahmen ihres neuen strategischen Konzeptes ernsthaft in Frage stellen würde. Während die zweite Option für die NATO nicht annehmbar ist, stellt auch die erste sie vor schwerwiegende Probleme. Denn wenn die Serben die gewalttätige Erpressung der NATO ignorieren, dann würde zwar die Luftwaffe serbische Ziele bombardieren, aber was käme dann? Die NATO würde sich dem Problem gegenübersehen, mit dem die Vereinigten Staaten seit Wochen im Irak konfrontiert sind. Ob aber die öffentliche Meinung in den europäischen NATO-Ländern bei einer sinn- und zwecklosen Bombardierung Serbiens so stillhalten würde, wie das in Amerika geschieht, ist zweifelhaft. Starke innere Spannungen in der NATO wären folglich vorprogrammiert.

Also sucht man zur Zeit verzweifelt nach einer dritten Option, die den Weg aus dem Dilemma zeigen könnte. Hier hat sich vor kurzem Lord Owen, der ehemalige britische Außenminister, der von 1992 bis 1995 der Sondergesandte der Europäischen Union für Bosnien war, zu Wort gemeldet. Er schlägt einen umfassenden Deal mit Jugoslawien vor, in dem auch Bosnien, genauer die serbische Republik Srpska, mit einbezogen würde. Zugleich verlangt er eine Neubewertung des Dayton-Abkommens sowie die notwendige Umschreibung desselben, da sonst die NATO auf Dauer in Bosnien und im Kosovo bleiben müßte, ohne auch nur eines der beiden vorhandenen Probleme zu lösen. An erster Stelle fordert er die Anerkennung der Realitäten in Bosnien und der Umstände, unter denen sich die großen Mächte in Bosnien »verstrickt« haben: Als Jugoslawien Anfang 1990 begann, in Kleinstaaten zu zerbrechen, bestand der Westen darauf, daß diese regionalen Grenzen auch die neuen, international anerkannten Staatsgrenzen wurden. Im Falle Bosniens hatte das zum Resultat, daß eine große Zahl von Serben, Kroaten und Muslimen dazu gezwungen wurde, miteinander zu leben, obwohl sie das nicht wollten.

Tauschhandel als Lösung?

Das Dayton-Abkommen versuchte das Problem zu lösen, indem es Bosnien in semiautonome Unterregionen aufteilte – 49 Prozent gingen an die bosnischen Serben und 51 Prozent an die Muslimisch-Kroatische Föderation – um zugleich alle Beteiligten unter einer einzigen Zentralregierung zusammenzubinden. So blieben die Grenzen Bosniens zwar erhalten, aber, so stellt Lord Owen fest, viele der Menschen in Bosnien hassen sich immer noch zutiefst. Somit kann der Frieden nur aufrechterhalten werden, indem amerikanische und andere NATO-Truppen dort bleiben. Zu glauben, daß Bosnien heute eine sich selbst erhaltende Einheit wäre, sei reine Phantasie. Die meisten Serben wollen nicht unter einer muslimisch geführten Regierung leben.

Dann leitet Lord Owen zum Kosovo über und formuliert: »Auf keinen Fall wird der serbische Präsident Milosevic den Kosovo in die Unabhängigkeit entlassen, selbst wenn es ein Referendum dazu gibt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht es zudem nicht danach aus, als ob die Kosovo-Albaner sich mit weniger als der Unabhängigkeit zufrieden geben. Der Versuch, dem Kosovo eine Autonomie innerhalb Serbiens aufzuzwingen, kommt dem Ansinnen gleich, Wasser den Berg hinaufzuschieben.« Aber genau das versuchen die Friedensverhandlungen in Rambouillet. Den »gordischen Knoten« will Lord Owen wie folgt durchtrennen: »Es ist an der Zeit, daß wir unsere Vorbehalte gegen die Veränderung internationaler Grenzen fallenlassen und eine Balkan-Lösung für ein Balkan-Problem finden.«

Diese Lösung würde heißen anzuerkennen, daß zwei Bevölkerungsgruppen aus den Staaten herauswollen, in denen sie leben: die Serben aus Bosnien und die Kosovo-Albaner aus Serbien. »Deshalb«, so Lord Owen, »sollte die NATO Milosevic vorschlagen, die Republik Srpska gegen das Kosovo zu tauschen«. Damit würden mehrere Probleme zugleich gelöst. Würden sich die Serben aus Bosnien herausbegeben, (und würde zusätzlich Druck auf die Kroaten ausgeübt, damit sie die muslimisch geführte Regierung in Sarajevo stärker unterstützen), würden so die Chancen steigen, daß in Bosnien Muslime und Kroaten, gemeinsam mit einigen verbleibenden Serben, besser zusammenleben könnten – und das ohne die Anwesenheit fremder Truppen. Der Abtretung Srpskas an Serbien würde somit die Entschädigung dafür darstellen, daß Belgrad das Kosovo, das ohnehin für Serbien verloren ist, habe gehenlassen. Milosevic könnte mithin das Kosovo kampflos abgeben, ohne von der Mehrheit der Serben die Beschimpfung als Verräter zu riskieren. Mit dieser Lösung würden sich die Chancen dafür erhöhen, das Kosovo-Problem ohne fremde Truppen oder endloses Blutvergießen lösen zu können. NATO-Truppen werden nur dann den Balkan wieder verlassen und auch draußen bleiben können, wenn die Mehrzahl der Menschen dort mit denen zusammenlebt, mit denen sie zusammen leben wollen. Dies geht aber nicht, ohne die bestehenden Grenzen bzw. das Dayton-Abkommen zu ändern. Eine Folge davon wäre, daß die NATO-Truppen dort auf Dauer bleiben müßten, um die Teile der Bevölkerung niederzuhalten, die nicht innerhalb dieser festgelegten Grenzen leben wollen. So weit die Überlegungen von Lord Owen.

Die Tatsache, daß seine Gedanken in Politikkreisen diskutiert werden, scheint darauf hinzudeuten, daß etliche NATO-Politiker mittlerweile befürchten, sich mit ihrem Kosovo-Engagement selbst eine Falle gestellt zu haben, aus der sie so leicht nicht mehr herauskommen. Auf den ersten Blick scheint Lord Owens Lösung bestechend einfach. Beim näheren Hinsehen zeigen sich aber auch hier jede Menge Probleme, die sowohl prinzipieller als auch praktischer Natur sind.

Ein Problem prinzipieller Natur wäre, daß somit ein Präzedenzfall geschaffen würde, bei dem festgelegte internationale Grenzen zur diplomatischen Manipulationsmasse unter der »Oberaufsicht« fremder Mächte würden. Es gibt wenige Staaten auf der Welt, besonders die aus Kolonien entstandenen, in denen keine ethnischen Minderheiten leben, die von einem anderen Staat getrennt sind, in denen ihre Ethnie die Majorität bildet. Dies ist aber auch in Europa, besonders im Osten, der Fall, so z. B. in Bulgarien (Türken), in Slowakien (Ungarn), in der Ukraine (Russen auf der Krim und in der Ost-Ukraine). Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Eine Lösung à la Owen wäre eine Botschaft an alle Nationalisten in diesen Regionen, daß bewaffnete Sezessionsversuche sich lohnen, solange man sicherstellen kann, daß die NATO sich einmischt. Was natürlich auch für den Fall gilt, falls die NATO zur Luftwaffe der UCK würde.