Ost-Blähungen der NATO erreichen Ungarn
von Rainer Rupp
erschienen am 17.11.1997 in der Jungen Welt
Zertifikat für neue Bourgeoisie. Brückenkopf für Ex-Feindbündnis
Die Wahlberechtigten Ungarns waren am Sonntag aufgefordert, in einem Referendum über einen Beitritt des Landes zur NATO abzustimmen. Umfragen zufolge war die noch deutliche Zustimmung vor Wochen beträchtlich geschmolzen. Dennoch schlossen Beobachter ein Nein zur NATO aus.
Was drängt Ungarn in den ehemals gegnerischen Militärblock, der in Planspielen für den Nuklearwaffen- Ersteinsatz gegen den Warschauer Vertrag geübt hat, Teile des Landes der Magyaren atomar zu pulverisieren? Fühlen sich die Ungarn heute von anderer Seite bedroht? Nein, antwortete der ungarische Außenminister vor kurzem im »NATO-Brief«: »Unser Bestreben, Mitglied der NATO zu werden, ist nicht durch Angst vor einer militärischen Bedrohung motiviert, sondern basiert auf gemeinsamen Werten«.
Wichtiges Element dieser gemeinsamen Werte ist die »freie Marktwirtschaft«, die auch in Ungarn Einzug gehalten hat. So manche sind dabei reich geworden, viel mehr Menschen aber verarmt. Damit die neue Bourgeoisie die »Errungenschaften« des Marktes festigen und weiter ausbauen kann, ist die schrittweise Integration in die westliche »Wertegemeinschaft« und ihre Institutionen unerläßlich. Dies begünstigt den Fluß von internationalem Kapital und räumt bei potentiellen Investoren Bedenken über mögliche »politische Rückschläge« aus.
Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) hätte Ungarn politische und wirtschaftliche Vorteile gebracht. Den EU-Ländern waren jedoch die Beihilfen, die Ungarn gemäß der EU-Struktur hätte beanspruchen können, angesichts allgemein knapper Kassen zu teuer. Vor einer EU- Mitgliedschaft soll eine Strukturreform durchgezogen werden, damit die Aufnahme neuer Mitglieder weniger kostspielig wird. Aber das kann noch Jahre dauern, und das Recht Ungarns auf EU-Mitgliedschaft ist nicht verbrieft.
Da die äußere Sicherheit Ungarns von keiner Seite bedroht ist, stellt die NATO-Mitgliedschaft für sich allein einen Zugewinn für die herrschende Klasse des Landes dar. Denn sie bringt politische Aufwertung, regionales Prestige und – für das internationale Kapital besonders wichtig – das Zertifikat, daß Ungarn mit seiner sozialistischen Vergangenheit endgültig gebrochen hat.
Die NATO-Strategen jedenfalls hätten Ungarn lieber heute denn morgen in ihrem Club. Denn mit der Weiterentwicklung ihres neuen »strategischen Konzeptes« von 1991 beschränkt sich die »neue« NATO nicht mehr auf den Schutz ihrer territorialen Grenzen: »Viele der neuen Gefahren sind regionaler Art oder ergeben sich an der Peripherie Europas und in anderen Erdteilen«, sagte der beigeordnete NATO- Generalsekretär für politische Angelegenheiten im August 1997. Bereits mit Beginn dieses Jahrzehnts hat sich die NATO durch Strukturveränderungen zu einer Interventionsallianz außerhalb ihrer Grenzen gemausert, um den »neuen Gefahren« zu begegnen. Die Projektion militärischer Macht ist deshalb auch das A und O der neuen NATO-Strategie – Ungarn als Brückenkopf, über den die NATO ihre Macht in ein Randgebiet projizieren und sich dort etablieren kann. Der NATO und den USA stehen bereits heute Basen zur Verfügung, die als Infrastruktur für die NATO-Truppen in Bosnien dienen.
In der Hoffnung, eine reiche Ernte einzufahren, offeriert die neue ungarische Bourgeoisie ihr Land der NATO als Sprungbrett. Dabei kann sie auf die massive Unterstützung aus Bonn zählen. Dort will man im Rahmen der »größeren internationalen Verantwortung des vereinten Deutschlands« die Rückkehr zur »Normalität«. Das bedeutet nichts anderes, als deutschen Interessen überall in der Welt notfalls mit Waffengewalt Nachdruck zu verschaffen. Völlig unverkrampft natürlich, denn auf der Verpackung steht »friedensschaffende Maßnahme«.