Palastrevolte in Toulouse?

Palastrevolte in Toulouse?

von Rainer Rupp

erschienen am 03.06.1999 in der Jungen Welt

Beim deutsch-französischen Gipfel wurde am Bild der geschlossenen NATO gekratzt.

Bei dem zweitägigen deutsch-französischen Gipfel in Toulouse stand am Wochenende auch das Verhältnis der beiden europäischen Partner zur NATO-Führungsmacht USA zur Debatte. Zwar vermieden Paris wie Bonn alle direkten Angriffe gegen Washington. Aber der französische Präsident Jacques Chirac gebrauchte bei einer Pressekonferenz dieselben diplomatischen Phrasen, die von den Franzosen regelmäßig benutzt werden, wenn sie die amerikanische Hegemonie und die einseitigen politischen Entscheidungen Washingtons zum Gegenstand ihrer Kritik machen.

Der Präsident unterstrich nämlich, daß Europas wachsende Verteidigungsidentität »einen bedeutenden Beitrag zu einer multipolaren Welt machen wird, der sich Frankreich besonders zugehörig fühlt.« Und Bundeskanzler Gerhard Schröder gab sich bei der Ankündigung der Gründung einer neuen europäischen, autonomen »Schnellen Eingreiftruppe« im Rahmen des Eurokorps (Mitglieder sind außer Deutschland und Frankreich noch Belgien, Spanien und Luxemburg) äußerst enthusiatisch: »Wir wollen und wir müssen europäische Krisenreaktionskräfte haben.«

Frankreich scheint den Traum eines von den USA unabhängigen Europas immer noch nicht aufgegeben zu haben. Dabei spielt die jüngste Erfahrung auch für Deutschland eine nicht unbedeutende Rolle. Die Clinton-Regierung macht nämlich rücksichtslos von ihrem Führungsanspruch in der NATO Gebrauch, nur um das Bündnis am Ende konzeptionslos weiter in die Sackgasse des sich abzeichnenden Bodenkrieges in Jugoslawien zu führen. Bonn, das bisher immer zu den USA neigte, wenn es sich zwischen den beiden Ländern entscheiden mußte, zeigte sich diesmal dem französischen Begehren gegenüber ungewöhnlich entgegenkommend. Beide Länder forderten letzten Samstag eine größere sicherheitspolitische Unabhängigkeit der Europäischen Union. Diese müßte durch die Fähigkeit, in Krisensituationen auch entscheiden und handeln zu können, untermauert werden. In dieser Richtung wurden für das heute in Köln beginnende EU-Gipfeltreffen weitere wichtige Schritte angekündigt.

In der gemeinsamen Erklärung von Schröder und Chirac in Toulouse fehlte der sonst bei solchen Gelegenheiten obligatorische Hinweis, daß die europäischen Beiträge die NATO nur verstärken und ergänzen sollen. Diesmal wird nicht einmal erwähnt, wie das in eine schnelle Eingreiftruppe umzuwandelnde Eurokorps mit den Krisenreaktionskräften der NATO zusammenarbeiten soll. Dies kann nur als Affront an die Adresse der USA gewertet werden. Erst recht, wenn die gemeinsame Erklärung unterstreicht, daß diese neuen Eurokorps-Krisenreaktionskräfte als ein Beitrag für die Vereinten Nationen und deren Sicherheitsrat gemeint sind, »weil beide die Hauptverantwortung für den Frieden und die internationale Sicherheit tragen«. Ein Schuß vor den Bug der Amerikaner, die auf sicherheitspolitischem Gebiet neben der von ihnen geführten NATO keine andere Organisation als gleichberechtigt anerkennen wollen.

Vor dem Hintergrund des US-geführten NATO-Krieges gegen das souveräne Jugoslawien und der wachsenden Spannungen innerhalb des Angriffsbündnisses über die ziel- aber zugleich kompromißlose amerikanische Opposition gegen substantielle Friedensgespräche gab die Entscheidung von Toulouse der »International Herald Tribune« Anlaß zur Frage, »wieviel Distanz zur NATO die beiden Länder mit ihrer gemeinsamen Erklärung eigentlich erreichen wollten?« Scheinbar gingen diese Ansätze einer kleinen deutsch-französischen Palastrevolution in der NATO doch nicht spurlos an Washington vorbei. US-Kriegsminister Cohen stattete Bonn letzten Donnerstag einen unangekündigten Besuch ab, um mit einigen anderen NATO-Kriegsministern zu beraten, bevor sich die EU-Verteidigungsminister am Freitag trafen.

Das einzige, was man bisher von dem Treffen mit Cohen erfahren konnte, war eine Wiederholung von Altbekanntem: Die anwesenden Kriegsminister unterstrichen, daß die NATO den Bombenkrieg gegen Jugoslawien fortführen und intensivieren müßte. Das legt die Vermutung nahe, daß der tatsächliche Auftrag Cohens wohl eher darin bestand, eine anhängige bedeutende diplomatische Initiative der Europäer zur Beendigung des Krieges außerhalb der von Washington vorgezogenen Richtlinen zu verhindern.

Washingtons Dilemma ist, daß es nun so aussieht, als gäbe es gute Ansätze für einen Verhandlungsfrieden auf der Basis der G-8- Grundsätze, die nach dem Treffen auf dem Petersberg in der gemeinsamen Erklärung formuliert wurden, die auch Washington unterschrieben hat. Hätte es nicht, dann wäre womöglich schon damals die Kriegskoalition auseinandergebrochen.

Die Forderungen der G-8 sind denen der NATO nicht unähnlich, allerdings mit einem fundamentalen Unterschied: Die NATO- Bedingungen verlangen von Belgrad, NATO-Streitkräfte unter NATO-Kommando in das Kosovo zu lassen. Das G-8- Übereinkommen verlangt statt dessen gemischte Streitkräfte unter UNO-Kommando. Belgrad hatte schon vor Wochen signalisiert, daß es auf dieser Basis zu einer Verhandlungslösung bereit sei.

In der Tat sollen nun nach Übereinkunft zwischen dem russischen Jugoslawien-Beauftragten Viktor Tschernomydin und der Regierung in Belgrad die kriegsführenden NATO-Länder mit ihren Truppen aus dem Kosovo herausbleiben. Gemischte Streitkräfte, z. B. aus nicht direkt am Krieg beteiligten NATO- Ländern wie Griechenland oder Polen, sollen zusammen mit Ländern wie Rußland und der Ukraine unter UNO-Komando das von der G-8 verlangte bewaffnete internationale Sicherheitselement im Kosovo bilden. Die NATO-Europäer, die unter wachsenden innenpolitischen Druck stehen, zeigen sich bereits verhaltenen optimistisch.

Hinter der zur Schau gestellten Kulisse der NATO-Einheitsfront werden die Risse größer, und die Fassade beginnt zu bröckeln. Die europäischen NATO-Länder haben immer stärker ihr Mißfallen über die einseitige und selbstherrliche Vorgehensweise der US- Regierung gezeigt. Mit Ausnahme von Großbritannien will kein europäisches NATO-Mitglied einen Bodenkrieg im Kosovo führen. Deutschland, Griechenland und Italien haben sich sehr deutlich dagegen ausgesprochen. Nun ging der italienische Außenminister Dini sogar einen Schritt weiter. Gegenüber dem italienischen Wochenmagazin Panorama erklärte er, daß auch nach einem Friedensabkommen mit Jugoslawien die Entsendung von NATO- Bodentruppen in das Kosovo einer regelrechten Invasion gleichkäme, der er sich widersetzen würde.