Phantom als Kriegsverbrecher
von Rainer Rupp
erschienen am 30.09.1998 in der Jungen Welt
Wie Serben auf die Den Haager Tribunal-Liste kommen. Ein Lehrstück
Die Wahrheit ist stets das erste Opfer des Krieges. Eine alte Erkenntnis, die trotzdem immer wieder zu verblüffenden neuen Entdeckungen führt. So auch der Fall des Serben und angeblichen Kriegsverbrechers Gruban, der jahrelang von der NATO gesucht wurde. Sein Name stand auf Platz Nr. 23 des international bekannten Steckbriefs neben den Namen von Radovan Karadzic, Ratko Mladic und vielen anderen. Von ihm gab es keine Fotos. Alter: unbekannt, Nationalität: unbekannt, Beschreibung: unbekannt, Adresse: unbekannt. »Sollen wir herumlaufen und >Gruban< rufen, bis sich einer meldet und den dann verhaften!?« beschwerte sich ein NATO-Offizier vom US-Stützpunkt in Tuzla.
Der Mann war einfach nicht zu fassen. Schließlich war er ja auch nur die Hauptfigur aus Miodrag Bulatovics berühmten Roman »Held auf dem Esel«. In seinem Anfang dieses Jahres erschienenen Buch: »Der Held auf dem Esel geht nach Den Haag« (zum Kriegsverbrechertribunal) klärt uns der Autor und Kriegsberichterstatter Nebojsa Jevric über die Hintergründe auf. In einer durchsoffenen Nacht in den »freien serbischen Bergen« in Bosnien hatte Jevric einem amerikanischen Kollegen das »größte Geheimnis« des Krieges anvertraut: Ein Mann namens Gruban hätte die meisten muslimischen Frauen geschändet. Seinen zynischen Spaß mit dem amerikanischen Journalisten vollendete er, indem er die Abenteuer des literarischen Helden Gruban aus dem Zweiten Weltkrieg auf den Krieg in Bosnien übertrug. Mit ungeahnten Folgen.
Es ist anzunehmen, daß der amerikanische Kriegsberichterstatter Kontakt zu einem Geheimdienst seines Landes aufnahm, der die Geschichte von Gruban ungeprüft übernahm. Nur so ist zu erklären, daß nicht lange danach der »Held auf dem Esel« auf dem NATO-Steckbrief erschien und zu einem der meistgesuchten Kriegsverbrecher wurde. Der Name Gruban tauchte denn auch auf der Liste der Personen auf, gegen die der Chefankläger Richard J. Goldstone vor dem Internationalen Kriegverbrechertribunal in Den Haag Anklage erhob – in Abwesenheit. Schnell ließen sich auch Zeugen gegen Gruban finden, der angeblich im Lager des Grubenkomplexes von Omarska gewütet hatte; nachzulesen unter den Ziffern 25.1 bis 25.4 der Anklageschrift von Goldstone.
Irgendwie müssen sich dann aber doch Zweifel an deren Glaubwürdigkeit oder an der ganzen Sache eingestellt haben. Am 8. Mai 1998 veröffentlichte das Internationale Gericht in Den Haag eine Erklärung, wonach die Anklage gegen 14 namentlich genannte Serben fallengelassen wurde. An dritter Stelle der Liste stand der Name Gruban.