Rechtfertigung von Kriegsverbrechen als deutsche Staatsraison
von Rainer Rupp
erschienen am 18. Oktober 2024 auf apolut
Baerbock und die zivilen menschlichen Ziele in Gaza
Es hat ein paar Tage gedauert bis Annalena Baerbock von der vernichtenden Wirkung ihrer Rede am 10. Oktober im Bundestag eingeholt wurde. In der Rede zum Jahrestag des Hamas-Überfalls auf die israelische Besatzungsmacht gedachte Deutschlands intelligenteste Außenministerin aller Zeiten den auf 1200 geschätzten israelischen Todesopfern. Auch den von Hamas verschleppten israelischen Geiseln galt ihr eher theatralisches Mitgefühl, wobei sie allerdings nicht erwähnte, dass die Hamas ihre israelischen Geiseln gegen Tausende Palästinenser in israelischen Gefängnissen austauschen wollte, wie in der Vergangenheit wiederholt geschehen.
Ansonst war Baerbocks Rede mit den im Zusammenhang mit Israel bis zum Überdruss bekannten, leeren Phrasen prall gefüllt. Und dazu gehörte auch die wiederholt Erwähnung, dass „Israels Sicherheit“ angeblichen „deutsche Staatsraison“ ist.
Hier zwei Beispiele[i] aus der Rede, wiedergegeben im „Plenarprotokoll 20/191, Stenografischer Bericht der 191. Sitzung des Deutschen Bundestags, in Berlin, Donnerstag, den 10. Oktober 2024 (https://dserver.bundestag.de/btp/20/20191.pdf#P.24791) Der Link führt direkt zur Rede von Baerbock.
„Israels Sicherheit ist Teil unserer deutschen Staatsräson. Wir gemeinsam – wir als Bundesrepublik Deutschland, wir als Bundesregierung, ich als Außenministerin, wir als Parlament, die demokratische Mitte, Sie als Parlamentarierinnen und Parlamentarier – haben das immer wieder deutlich gemacht“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP.)
Oder:
„Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, unabhängig davon, wer Deutschland regiert, unabhängig davon, wer Außenpolitik macht.“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP.)
Allerdings hängt der Begriff „Staatsraison“ haltlos im politischen Raum, denn keiner weiß, was Staatsraison wirklich ist. Es gibt nicht einmal einen Beschluss des Deutschen Bundestags, der den Begriff definieren würde, den viele so vollmundig benutzen.
Angeblich soll die Formel irgendwann mal Kanzlerin Angela Merkel über die Lippen gekommen sein, wonach sie prompt von pro-zionistischen Kreisen instrumentalisiert und sofort gegen zweifelnde Fragen mit Anti-Semitismus Verdächtigungen wehrhaft abgeschirmt wurde. Hier folgt ein Versuch, den Begriff und die Politik drumherum einzuordnen:
Die Staatsräson, abgeleitet aus dem Französischen „raison d’état“, ist ein Überbleibsel autokratischer Regierungsformen hauptsächlich aus der Feudalzeit. Sie bezieht sich im Allgemeinen auf die Idee, dass der Staat, also der Herrscher in bestimmten Situationen Maßnahmen ergreifen kann, die aus Sicht der herrschenden Moral problematisch sind oder gegen geltendes Recht verstoßen, aber aus Sicht des Herrschers notwendig für das Überleben seines Staates, bzw. seiner Herrschaft ist.
Dieses Konzept hat ihn früheren Jahrzehnten zu teils hoch sophistischen, politischen und juristischen Streitigkeiten geführt. In jüngeren Zeiten und unter demokratischeren Staatsformen steht der Staat vor allem in der Verantwortung, die Interessen seiner Bürger zu schützen. Der Schutz der Bürger und ihrer Interessen hat demnach – zumindest in den Gesetzestexten Vorrang vor dem Schutz der staatlichen Institutionen.
Der Schutz des anonymen Staatsapparates wird jedoch von vielen Politikern und Staatsdienern aus nachvollziehbarem Eigeninteresse als höchste Staatsraison angesehen und führt zwingend zu Spannungen und Widersprüchen zwischen Schutz der Bürgerinteressen und dem Staatsschutz.
Mit anderen Worten der alte, vieldeutige Begriff Staatsraison, widerspiegelt das Spannungsfeld zwischen Gesetz, Recht, Moral einerseits und den Zielen von Politikern und Staatsdienern, bzw. den Kräften aus dem Tiefen Staat andererseits. Aber egal wie unterschiedlichen die jeweiligen Interessen auf sein mochten, sie waren immer auf den eigenen Staat, bzw. auf die eigene Nation fokussiert.
Historisch und weltweit einmalig ist daher die Tatsache, dass Deutschlands Politiker deklamieren, dass die Sicherheit eines anderen, weit entfernten Staates deutsche Staatsraison ist! Das, obwohl dieser Staat in seiner kurzen Geschichte seit 1948 immer wieder seine Nachbarstaaten überfallen, die ansässige Bevölkerung vertrieben, immer wieder Landraub begangen und zu alledem auch noch einen Apartheidstaat auf den besetzten Gebieten errichtet hat.
Zu allem Überfluss wird dann auch noch diese Staatsraison-Formel von den Herrschenden in der deutschen Politik in eine unantastbare gusseiserne Form gegossen, der auf dem Altar der deutsch-israelischen Beziehungen jeden Tag obligatorische Ehrenbezeugungen erwiesen werden müssen.
Plenarprotokoll 20/191, der Stenografischer Bericht der 191. Sitzung des Deutschen Bundestags, in Berlin, Donnerstag, den 10. Oktober 2024 (https://dserver.bundestag.de/btp/20/20191.pdf#P.24791) Der Link führt direkt zur Rede von Baerbock.
Aber kommen wir nun zum Kern von Baerbocks Rede, der inzwischen rund um die Welt ging und sie mit Wucht eingeholt hat. Mit dem von ihr bereits gewohnten Durchblick hatte Deutschlands führende Völkerball-Rechtlerin vor den Kameras der Welt die notdürftigen Sammelunterkünfte in Gaza für bereits ausgebombte, obdachlose palästinensische Familien zu legitimen militärischen Zielen für die zionistische Soldateska erklärt, und denen in ihrem verbrecherischen Tun weiter deutsche Unterstützung zugesichert. Das ist der Skandal, der rund um die Welt geht.
Da aber der Rest von Baerbocks Rede voller leerer Worthülsen war, hatte scheinbar niemand so richtig hingehört, als die Außenministerin mit der Autorität unseres Landes erklärte, dass israelische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Ordnung sind und Deutschland weiter hinter den Kindermassenmördern steht.
Was genau hatte nun Baerbock laut Plenarprotokoll gesagt:
„Das humanitäre Völkerrecht und das Existenzrechts Israels gehören auf das Engste zusammen. Dafür steht die deutsche Staatsräson.“
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
„Daher haben wir es immer wieder deutlich benannt: Selbstverteidigung bedeutet natürlich, dass man Terroristen nicht nur angreift, sondern zerstört. Deswegen habe ich so klar und deutlich gemacht: Wenn Hamas Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen, dann kommen wir in ganz schwierige Bereiche. Aber wir ducken uns davor nicht weg. Deswegen habe ich vor den Vereinten Nationen deutlich gemacht: Dann können auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren: weil Terroristen diesen missbrauchen. Dazu steht Deutschland, das bedeutet für uns Sicherheit Israels.“
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Den Stein ins weltweite Rollen hatte der Berliner Journalisten Tarek Baé gebracht, indem er Dienstag ein Video mit dem relevanten Ausschnitt aus Baerbocks Rede mitsamt englischen Untertiteln gepostet hatte. Die Wirkung war ungeheuer. Postwendend meldete sich sogar die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese auf X zu Wort:
“Als unabhängige Expertin der UN bin ich sehr besorgt wegen der Haltung, die Deutschland in Bezug auf Israel/Palästina einnimmt, und seine gefährlichen Implikationen und Konsequenzen. Ministerin Baerbock sollte eingeladen werden, Beweise für ihre Behauptungen vorzulegen und dann erklären, wie “zivile Objekte den geschützten Status verlieren und wie die Massaker rechtfertigt, die Israel im Gazastreifen und andernorts verübt.“
„Hat Deutschland entschieden, sich an die Seite eines Staates zu stellen, der Völkerrechtsverbrechen begeht, ist das eine politische Wahl, aber sie hat auch rechtliche Konsequenzen. Möge die Gerechtigkeit siegen, wo die Politik schrecklich versagte.”
Seit der ersten Veröffentlichung des Videos, in dem die “Völkerball-Rechtlerin“ Angriffe auf zivile Ziele rechtfertigt, ging die Nachricht nicht nur in alternativen Medien viral, sondern auch in den Leitmedien der Länder des Globalen Südens, von Al Jazeera über den türkischen Sender TRT und Kuwait Times, nur um einige zu nennen. Das Bearbock-Video hat definitiv eine große Reise durch den arabischsprachigen Raum und darüber hinaus angetreten. Hier ist z.B. eine Baerbock-Video-Persiflage[ii] mit arabischen Untertiteln.
Wenige Tage nach ihrer Bundestag-Rede, am 14. Oktober, hat dann die Genozid verdächtige israelische Armee Flüchtlingszelte vor einer Klinik in Gaza in Brand geschossen und die Bilder von den Frauen und Kindern, die mit brennenden Kleidern versuchten, sich zu retten, gingen ebenfalls um die Welt. Es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aus Sicht des globalen Südens hat die deutsche Außenministerin genau solche Angriffe als rechtmäßig erklärt. So treffen diese Bilder und Baerbocks Rechtfertigung aufeinander und ergeben eine toxische Mischung, die definitiv dem Ruf und Ansehen Deutschlands nachhaltig schaden wird.
Der Schutzstatus ziviler Orte im Völkerrecht verfällt nämlich nicht so einfach, wie die deutsche Völkerball-Rechtsexpertin im Bundestag und vor dem Rest der Welt konstatiert hat.
Zugegeben, die Frage, ob zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren, wenn Terroristen sie missbrauchen, ist ein komplexes und kontroverses Thema im Völkerrecht. Denn es berührt mehrere völkerrechtliche Instrumente, insbesondere das humanitäre Völkerrecht, die Haager Landkriegsordnung (HLKO) und die Genfer Konventionen, die den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten regeln. Schauen wir und das doch mal im Detail an:
Nach dem humanitären Völkerrecht, insbesondere der Haager Landkriegsordnung von 1907 und den Genfer Konventionen von 1949 sowie deren Zusatzprotokollen, sind zivile Personen und Orte vor Angriffen geschützt. Zivilisten dürfen nicht das Ziel von militärischen Angriffen sein, und zivile Objekte wie Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen genießen besonderen Schutz.
Allerdings gibt eine anerkannte Regel im Völkerrecht, dass zivile Objekte ihren Schutzstatus verlieren können, wenn sie zu militärischen Zwecken genutzt werden, allerdings nicht, wenn sich jemand unter der Zivilbevölkerung versteckt. Zivile Objekte verlieren nur dann ihren Schutzstatus, wenn aus ihnen heraus Angriffe gegen den Gegner erfolgen, sie also zu militärischen Zwecken genutzt werden. Dieser Grundsatz wird oft als „dual-use“-Doktrin bezeichnet. Beispielsweise, wenn eine Schule oder ein Krankenhaus als Basis für militärische Operationen oder zur Lagerung von Waffen dient, kann es zum legitimen Ziel werden.
Das Zusatzprotokoll I zu den Genfer Konventionen (Artikel 52) besagt jedoch, dass „militärische Objekte“ ausschließlich solche Objekte sind, die einen effektiven Beitrag zu militärischen Handlungen leisten und deren Zerstörung einen klaren militärischen Vorteil verschafft. Dies bedeutet, dass der bloße Missbrauch eines zivilen Objekts durch Terroristen nicht automatisch zu einem Freibrief für wahllose Angriffe auf dieses Objekt führt. Jeder Angriff muss spezifisch gegen die militärische Funktion des Objekts gerichtet sein.
Eine wichtige Rolle spielt auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ein zentrales Prinzip des humanitären Völkerrechts ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Artikel 51 und 57 des Zusatzprotokolls I). Dieser besagt, dass militärische Aktionen, auch wenn sie auf legitime militärische Ziele abzielen, nicht unverhältnismäßig viele zivile Opfer fordern dürfen. Der erwartete militärische Vorteil eines Angriffs muss in einem angemessenen Verhältnis zu den zivilen Verlusten und Schäden stehen.
Ein Angriff, der übermäßige zivile Opfer verursacht oder massive Zerstörung ziviler Infrastruktur nach sich zieht, kann leicht als unverhältnismäßig und damit völkerrechtswidrig gelten, selbst wenn das militärische Ziel legitim ist.
Die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 verbietet wahllose Gewaltanwendung und verlangt von den Konfliktparteien, Schäden an der Zivilbevölkerung zu minimieren. Insbesondere Artikel 25 der HLKO verbietet den Beschuss von „nicht verteidigten“ Städten, Dörfern, Wohnstätten oder Gebäuden, und dies bezieht sich auch auf den Schutz von Zivilisten.
Wenden wir nun diese Grundsätze auf die aktuelle Lage im Gaza Konflikt an. Im aktuellen Kontext, etwa bei den Vorwürfen von „Gaza-Massakern“, geht es um die Frage, ob militärische Operationen, die eine große Zahl von zivilen Opfern fordern, völkerrechtskonform sind. Wenn Terroristen in dicht besiedelten zivilen Gebieten wie dem Gazastreifen agieren und zivile Objekte als Schutzschild benutzen, stellt dies die Konfliktparteien vor besondere Herausforderungen.
Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) betrachtet den bewussten Einsatz von Zivilisten als Schutzschild als Kriegsverbrechen. Doch selbst wenn eine Konfliktpartei Terroristen bekämpft, bleibt sie an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dies bedeutet, dass selbst wenn Terroristen zivile Schutzschilde verwenden, ein Angriff nicht erfolgen darf, wenn er unverhältnismäßig hohe zivile Verluste zur Folge hat.
Der Vorwurf eines Genozids oder einer ethnischen Säuberung wird dann erhoben, wenn die Gewaltanwendung über das hinausgeht, was als „militärisch notwendig“ angesehen werden kann, und gezielt auf die Auslöschung einer Gruppe abzielt. Dies erfordert eine besondere Untersuchung, insbesondere unter den Vorgaben der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948.
Auch wahllose tödliche Gewaltanwendung der Zionisten, wie man sie in Gaza immer wieder sieht, ist nach dem Völkerrecht strengstens verboten. Die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle verbieten explizit Angriffe, bei denen keine Unterscheidung zwischen Kämpfern und Zivilisten gemacht wird. Dies betrifft sowohl den Einsatz schwerer Bombardierungen in dicht besiedelten Gebieten als auch den Einsatz von Waffen, die keine präzise Zielsteuerung ermöglichen.
Fazit
Die Deutsche Außenministerin hat vor ihrer Bundestagsrede wahrscheinlich in ihrem Büchlein „Völkerrecht für Dummköpfe“ einen Kurztext gelesen, wonach zivile Orte unter bestimmten Umständen ihren Schutzstatus verlieren können, wenn sie von Terroristen für militärische Zwecke missbraucht werden. Sie hatte gefunden, was sie brauchte, und blätterte nicht weiter. Aber jeder, der auch nur zwei Semester Jura studiert hat, weiß, dass es für alles Ausnahmeregelungen oder Einschränkungen gibt, egal ob BGB, Handelsrecht oder Strafrecht. Immer ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zentral, und das gilt auch für das Völkerrecht und Kriegsrecht.
Jeder militärische Angriff muss daher sorgfältig abwägen, ob der militärische Vorteil den potenziellen Schaden für die Zivilbevölkerung rechtfertigt. Eine unterschiedslose Gewaltanwendung, die eine unverhältnismäßig große Zahl von zivilen Opfern fordert, ist völkerrechtswidrig und könnte als Kriegsverbrechen oder gar Völkermord geahndet werden. Auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese scheint das so zu sehen. Angesichts der Klage in Den Haag, in der Deutschland der Beihilfe zum Genozid beschuldigt wird, könnten Baerbocks Worte von Den Haag noch als Bestätigung angesehen werden. Deutschland befindet sich wieder einmal auf der falschen Seite der Geschichte.
Anmerkungen
[i] (https://dserver.bundestag.de/btp/20/20191.pdf#P.24791)
[ii] https://x.com/i/status/1846211978596942169