Risse in der Allianz: Selenskijs Höhenflug endete beim NATO-Gipfel als Bruchlandung
von Rainer Rupp
Die Absage an die schnelle Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und deren Verschiebung auf einen unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft nach Erfüllung einer Reihe von Bedingungen kam für den Staatsschauspieler aus Kiew, der sonst immer der umsorgte Gast bei NATO-Treffen war, als schwerer Schock.
Dabei hatte er sich so auf den Gipfel in Vilnius gefreut. Dieser sollte der vorläufige Höhepunkt seiner Karriere am Tisch der Großen und Mächtigen der westlichen Welt werden. Per Schnellverfahren sollte in Vilnius die Ukraine zum NATO-Mitglied werden. Darauf hatten vor allem die baltischen Giftzwergstaaten, Polen und die rabiatesten Kriegstreiber in den restlichen NATO-Staaten gedrängt. Mit diesem Schritt aber wäre die NATO automatisch über Artikel 5 ihrer eigenen Charter an der Seite Kiews in den Krieg gegen Russland eingetreten, gegen die bei weitem stärkste Militär- und Nuklearmacht Europas.
Zum Glück kennen in den USA und Deutschland noch einige Leute die NATO-Charter und erinnerten sich daran, dass die NATO kein Land als Mitglied aufnehmen kann, das sich in einem Krieg befindet oder wo ein schwelender Grenzkonflikt jederzeit zum Krieg führen könnte. Bei der Gründung der NATO hatten die USA darauf besonderen Wert gelegt, denn sie wollten nicht in einen Krieg der europäischen Staaten mit ihren Kolonien entlang der südlichen Küste des Mittelmeers hineingezogen werden.
Zur Erinnerung sei erwähnt, dass damals ein großer Teil Algeriens keine Kolonie war, sondern ein Département, und somit offizielles Territorium des NATO-Staates Frankreich. Auch der Suezkanal-Krieg der Franzosen und Briten gegen Ägypten, der zwar etwas anders gelagert war, verdeutlicht, dass die Vorsicht der Amerikaner durchaus berechtigt war. Und als die Bundesrepublik Deutschland Mitglied der NATO wurde, musste sie offiziell eine Verzichtserklärung unterschreiben, dass sie keinen Versuch machen werde, mit Gewalt die Grenzen der DDR anzutasten.
Praktisch im letzten Moment vor dem Beginn des Gipfels in Vilnius, kurz bevor Präsident Biden dorthin abflog, ließen die USA und Deutschland gemeinsam die Luft aus den aufgeblasenen Ambitionen Selenskijs und seines Regimes bezüglich der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und verschoben diese praktisch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
Unter den von den USA und Deutschland gestellten Bedingungen, die mit der NATO-Charter konform gehen, besteht zwar theoretisch immer noch die Möglichkeit der Mitgliedschaft in der Allianz, aber praktisch ist das ohne einen Friedensvertrag mit Russland und ohne die offizielle Anerkennung und parlamentarische Ratifizierung der gemeinsamen russisch-ukrainischen Grenzen nicht möglich.
Russland steht mitten im Ukraine-Konflikt wirtschaftlich und militärisch und vor allem auch auf der globalen politischen Bühne besser da als vor der “Speziellen Militäroperation”. Das genaue Gegenteil ist im kollektiven Westen zu beobachten.
Daher kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Ukraine die vom NATO-Generalsekretär gestellte erste Bedingung zum NATO-Beitritt erfüllen kann, nämlich den ukrainischen Sieg über Russland.
Ebenso sicher kann davon ausgegangen werden, dass US/NATO ‒ mit welchen Mitteln auch immer ‒ den Kreml und die russische Duma nicht dazu zwingen könnten, bezüglich der Grenzen in der Ukraine irgendwelche Zugeständnisse zu machen, die russischen Kerninteressen entgegenlaufen würden.
Daraus folgt, dass die Erfüllung der von den USA und Deutschland gestellten Bedingungen zur ukrainischen Mitgliedschaft nur mit dem Einverständnis Russlands überhaupt möglich ist. Und Russland will auf jeden Fall eine neutrale, demilitarisierte, NATO-freie Ukraine an seiner Westgrenze.
Über dieses “Mitspracherecht der Russen”, das laut Selenskij die USA und Deutschland mit ihren Bedingungen dem Kreml über die Zukunft der Ukraine de facto eingeräumt haben, habe sich Selenskij in einem Wutanfall vor den versammelten Staats- und Regierungschefs besonders aufgeregt. Das berichtete Bloomberg unter Berufung auf mehrere, allerdings namentlich nicht genannte hochrangige Zeugen des Vorfalls.
Zu Beginn seines Fluges von Kiew nach Vilnius hatte Selenskij erfahren, dass die USA und Deutschland in dem Ukraine-Dokument für den Gipfel Bedingungen für die Aufnahme der Ukraine gestellt hatten. Für die ganze Welt sichtbar hat er dann per Twitter einen wütenden Kommentar abgeschickt. Der Wortlaut der empörten Nachricht stieß seinen NATO-Gipfel-Partnern übel auf, die alles versucht hatten, möglichst den Anschein des Zusammenhalts und der geschlossenen US/NATO/Ukraine-Front zu präsentieren. Dies führte dazu, dass Bloomberg über die Blamage berichtet hat unter dem Titel “Die NATO übertüncht die Risse, nachdem Selenskij die Beherrschung verloren hat”.
Hier der übersetzte Wortlaut von Selenskijs Twitter-Nachricht:
“Wir schätzen unsere Verbündeten. Wir schätzen unsere gemeinsame Sicherheit. Und wir freuen uns immer über ein offenes Gespräch. Die Ukraine wird auf dem NATO-Gipfel in Vilnius vertreten sein. Weil es um Respekt geht.
Aber die Ukraine verdient auch Respekt. Jetzt, auf dem Weg nach Vilnius, haben wir Signale erhalten, dass bestimmte Formulierungen ohne die Ukraine diskutiert werden. Und ich möchte betonen, dass es bei dieser Formulierung um die Einladung geht, NATO-Mitglied zu werden, nicht um die Mitgliedschaft der Ukraine.
Es ist beispiellos und absurd, wenn weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine ein Zeitrahmen festgelegt ist. Gleichzeitig werden vage Formulierungen über ‘Bedingungen’ hinzugefügt, selbst für die Einladung der Ukraine.
Es scheint, dass es keine Bereitschaft gibt, die Ukraine in die NATO einzuladen oder sie zu einem Mitglied des Bündnisses zu machen.
Dies bedeutet, dass ein Zeitfenster gelassen wird, um die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO in Verhandlungen mit Russland auszuhandeln. Und für Russland bedeutet dies eine Motivation, seinen Terror fortzusetzen.
Unsicherheit ist Schwäche. Und ich werde das auf dem Gipfel offen diskutieren.”
Während der Sitzung und beim Abendessen sei Selenskij wiederholt von anderen Teilnehmern zurechtgewiesen worden, nicht nur wegen seiner Twitter-Nachricht, sondern wegen seines ständig fordernden Verhaltens. Bloomberg schreibt dazu:
“Dieser Ausbruch ärgerte wiederum die Partner, die Milliarden von Dollar an Waffen und Hilfe in die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion gesteckt haben. Beim Abendessen in Vilnius … überbrachten die anderen Staats- und Regierungschefs Selenskij eine klare Botschaft, so eine anwesende Person.”
“Ob es uns gefällt oder nicht, die Leute wollen Dankbarkeit sehen”, sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace am nächsten Morgen vor Reportern. “Sie haben sogar die Länder überredet, ihren Vorrat an Waffen und Munition aufzugeben”, fügte er hinzu.
Die NATO-Führer haben bei ihrer Ankunft in Vilnius versucht, mit der Quadratur des Kreises eine Wortwahl zu finden, die nach Fortschritt aussah und die die Ukraine zu Hause auch als Fortschritt verkaufen konnte, die aber die NATO grundsätzlich nicht näher in eine Position brachte, in der sie in einen Krieg mit dem atomar bewaffneten Russland hineingezogen werden könnte.
Resigniert erklärte der ukrainische Außenminister Kuleba vor seinem Rückflug nach Kiew am Mittwoch: “Es fehlte an politischem Willen”.
Und als Selenskij am Mittwoch gegen Mittag mit Reportern sprach, hatte sich sein Ton geändert. Er hatte Kreise gefressen und benutzte das Wort “Dankbarkeit” an die vier Dutzend Mal.
“Wir verstehen, dass einige Angst haben, jetzt über unsere Mitgliedschaft in der NATO zu sprechen, weil sie Angst vor dem globalen Krieg haben”. Die Ukraine akzeptiere, dass sie nur beitreten könne, “wenn sie (die NATO) auf unserem Territorium sicher ist”, fügte er hinzu. Zuvor hatte ihm Biden öffentlich versprochen: “Wir werden dafür sorgen, dass Sie bekommen, was Sie brauchen”. Wie lange Biden das bei dem wachsenden Widerstand zu Hause und bei dem Desaster der laufenden “Gegenoffensive” noch kann, ist eine andere Frage.
Für Selenskij wird der Gipfel in Vilnius unvergesslich bleiben. Es sollte die Rolle seines Lebens werden und wurde ein Flop. Dabei hatte seine Public Relations-Abteilung alles getan, um seinen Auftritt in Vilnius mit eindrucksvollen Bildern zu dramatisieren. Als einziger Staatschef war er mit einem martialischen Aufgebot von bulligen und schwer bewaffneten Leibwächtern eingetroffen, die ihn vor dem bösen Putin schützen sollten. Diese Bilder sollten bezwecken, nicht nur den anwesenden Präsidenten und Regierungschefs, sondern auch der Weltöffentlichkeit ein Gefühl der allgegenwärtigen russischen Gefahr zu vermitteln, in der sich der mutige Freiheits- und Kriegsheld Selenskij überall und jederzeit befindet.
Aber in Vilnius kam diesmal alles anders. Es gab nicht die gewohnten stehenden Ovationen. Vielmehr hat ein ganz anderes Bild weltweit die Runde gemacht. Das Foto zeigt einen Ausschnitt vom offiziellen Empfang vor dem Abendessen. Festlich gekleidete Damen und Herren stehen in Gruppen, halten ihre Drinks und unterhalten sich. Im Vordergrund steht einsam und allein ein kleiner Mann in grünem Militärhemd und -hose ziemlich verloren da. Alle anderen drehen ihm den Rücken zu. Das Foto ist symbolisch für Selenskijs Position in der NATO-Hackordnung, denn er hat der US/NATO nicht geliefert, was er ihr versprochen hatte.
Selenskij hatte der NATO bei der Gegenoffensive einen schnellen Sieg in Aussicht gestellt, sogar die Rückeroberung der Krim. Darauf hatte der Westen gebaut und die NATO hat ihm für teures Geld und gegen wachsende interne politische Widerstände eine ganze neue Armee hingestellt, ausgerüstet mit modernen und schweren Waffen. Diese haben die Russen inzwischen mindestens zur Hälfte bereits verbrannt, einschließlich der deutschen Wunderwaffe Leopard 2A. Die so hoffnungsvoll begonnene Offensive ist trotz zigtausend gefallener ukrainischer Soldaten so gut wie nicht vom Fleck gekommen.
Vilnius war für Selenskij ein Schlag ins Gesicht vor der gesamten Weltöffentlichkeit. Das muss für ihn eine unerträgliche und unverdiente Erniedrigung gewesen sein. Glauben er und seine Nazi-Schergen doch, sie hätten unter unglaublicher Selbstaufopferung ganz Europa, die NATO, ja die gesamte westliche Zivilisation gegen die russischen Barbaren gerettet.
Wie lange wird es dauern, dass aufgrund der Ereignisse in Vilnius in der Ukraine die Erkenntnis durchsickert, dass Selenskij auf Zuruf der NATO und aufgrund derer fadenscheinigen Versprechen im Stellvertreterkrieg gegen Russland leichtfertig Hunderttausende ukrainischer Soldatenleben verheizt hat? Wird sich dann der Staatsschauspieler trotz Leibwächtergarde rechtzeitig in seine Villen nach Italien oder Miami absetzen können?
Derweil hat Vilnius das bereits angeschlagene Prestige der NATO und ihre Zuverlässigkeit weiter untergraben.