Russlands Zickzackkurs beim Getreideabkommen – die Hintergründe
von Rainer Rupp
erschienen am 7.November 2022 auf RT deutsch
Nachdem Russland Ende letzter Woche seine Beteiligung an dem Getreideabkommen von Istanbul aufgekündigt hatte, übte der Westen plötzlich auf globaler Ebene einen ungeheuren diplomatischen Druck auf Moskau aus, damit es dem Abkommen wieder beitritt. Der Druck kam von denselben Politikern und Medien, die zuvor die Ursache für diesen russischen Schritt bejubelt hatten, nämlich den kombinierten ukrainischen Angriff mit Luft- und Wasserdrohnen auf die russische Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol, unter Bruch des Getreideabkommens von Istanbul.
Die logischen Folgewirkungen wurden vom Westen dann aber wieder für anti-russische Propaganda benutzt, wobei man dem Kreml vorwarf, er wolle mit einer Hungersnot in Afrika und anderen Entwicklungsländern die Weltgemeinschaft erpressen, sich im Ukraine-Konflikt hinter Russland zu stellen. Durch Russlands Rückkehr in das Getreideabkommen sieht es nun so aus, als habe Moskau sich dem westlichen Druck gebeugt. Deshalb tun die Westmedien auch nichts, um die Öffentlichkeit über die Hintergründe aufzuklären. Das soll hier nachgeholt werden.
Aus Sicht Moskaus missbrauchte die Ukraine den Getreidedeal eindeutig für den Angriff gegen die russischen Kriegsschiffe und erhielt dabei aktive Unterstützung durch die Briten. Dafür will Russland laut offizieller Ankündigung in den nächsten Tagen Beweise vorlegen. Dazu gehören angeblich auch die Navigationsinstrumente, die aus den abgeschossenen bzw. im Wasser abgefangenen ukrainischen Drohnen geborgen wurden, von denen der größte Teil nicht zur Explosion gekommen ist.
Zuschauer von „Tatort“-Krimis kennen sicherlich die Szenen, in denen die Kommissare anhand eines Navigationssystems erkennen, wann ein Auto an welchem Ort war oder wann sich ein Handy an welchem Ort eingeloggt hat. Militärische Drohnen, die über weite Strecken operieren, orientieren sich auch über Navigationssysteme. Anhand der aus den Drohnen geborgenen Navigationssysteme, die laut Angaben aus Moskau aus kanadischer Herstellung stammen, konnten auch die russischen „Kommissare“ den Weg der Drohnen zurückverfolgen.
Demnach ergibt sich folgendes Bild des Tathergangs: Einige der Meeres-Drohnen hatten ihre Reise im Hafen von Odessa begonnen. Sie folgten dann dem „humanitären Korridor“ der Getreideschiffe bis zu dem Punkt, wo sie in der Höhe von Sewastopol in Richtung Angriffsziel abgebogen sind. Bei einer Drohne aber beginnen die elektronischen Navigationssignale nicht in Odessa, sondern erst weit entfernt, tief im „humanitären Korridor“, unweit der Stelle, wo man in Richtung Sewastopol abbiegt. Da keine anderen Schiffe als die Getreideschiffe und die russischen Minensuchboote den „humanitären See-Korridor“ benutzen, kann das nur bedeuten, dass mindestens eine mit Sprengstoff vollgepackte ukrainische Drohne von einem Getreideschiff aus in See gesetzt und auf die Reise nach Sewastopol gestartet wurde. Alles in allem ergibt das einen Bruch des Getreideabkommens von Istanbul.
Dennoch hatte Moskau den Getreidedeal nicht platzen lassen. Stattdessen erklärte Russland, dass es sich nicht länger am Deal beteiligen werde. Das aber bedeutete u. a., dass die russischen Minensuchschiffe nicht mehr alltäglich sicherstellen würden, dass sich keine Seeminen in den „humanitären Seekorridor“ verirrt hatten.
Zu Beginn des Krieges hatte die ukrainische Marine einen russischen Angriff auf Odessa von der Seeseite her befürchtet und das Gebiet weiträumig mit Seeminen gesichert. Aber viele dieser Minen waren nicht gut genug verankert, und sie wurden bei Stürmen mit schwerem Wellengang losgerissen. Einige wurden sogar an der türkischen Küste angeschwemmt. Auch heute weiß niemand genau, wie viele dieser ukrainischen Minen noch umhertreiben. Deshalb ist die Sicherung des humanitären Seekorridors durch die russischen Minensuchboote – funktionsfähige ukrainische Schiffe dieser Art gibt es nicht mehr – für die Getreideschiffe aus Odessa von solch großer Bedeutung; nicht zuletzt, weil dadurch die Preise für die Versicherungspolicen der Schiffe erheblich beeinflusst werden.
Aber wieso machte Russland diese schnelle Kehrtwende und ist wenige Tage nach seinem Austritt aus dem Istanbuler Getreideabkommen dem Abkommen wieder beigetreten? Wie ist diese erratische Reaktion zu erklären? Hat sich Moskau etwa von der Westpropaganda, dass es aus selbstsüchtigen Gründen eine globale Hungersnot provoziere, gar in die Knie zwingen lassen? Dieser Eindruck entsteht, wenn man den gleichgeschalteten, westlichen „Qualitätsmedien“ als einzige Informationsquelle ausgeliefert ist. Tatsächlich ist es ganz anders gelaufen.
Unmittelbar nach Russlands Rückzug aus dem Deal führte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der viel persönliches Prestige in das Istanbuler Getreideabkommen investiert hatte, ein sehr langes Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Laut offiziellem Protokoll der russischen Präsidialverwaltung stand „im Mittelpunkt des Gesprächs ein eingehender Gedankenaustausch über den aktuellen Stand der Bemühungen zur Umsetzung der mit der türkischen Seite getroffenen Vereinbarungen über die Ausfuhr von Getreide aus den Schwarzmeerhäfen“. Implizit also sowohl aus ukrainischen als auch aus russischen Häfen, was eine Erinnerung daran ist, dass von Anfang an nur ein Teil des Istanbuler Getreidedeals umgesetzt worden war. Dazu später mehr.
Wladimir Putin lieferte ein Update, in dem die Gründe für die Entscheidung Russlands, das Abkommen auszusetzen, erläutert wurden. Dabei betonte er, dass „das ukrainische Regime – mit Unterstützung seiner westlichen Kuratoren – den maritimen humanitären Korridor, der für den Transport von ukrainischem Getreide geschaffen worden war, ausgenutzt hat, um Angriffe auf die russische Schwarzmeerflotte und Infrastruktur in Sewastopol durchzuführen“. Dadurch sei „der sichere Betrieb der oben genannten maritimen Route nicht mehr gewährleistet“ gewesen. Es sei daher „unbedingt erforderlich gewesen, eine detaillierte Untersuchung der Umstände dieses Vorfalls durchzuführen, und dass Kiew echte Garantien für die strikte Einhaltung der Vereinbarungen von Istanbul bietet, insbesondere für die Nichtnutzung des humanitären Korridors für militärische Zwecke“.
Laut dem veröffentlichten offiziellen Gesprächsprotokoll hat Putin Erdoğan auch gesagt, dass „Russland bereit ist, dem Getreidedeal wieder beizutreten, vorausgesetzt, dass zwei Dinge erfüllt werden: Erstens, dass es eine detaillierte Untersuchung des Vorfalls in Sewastopol gibt und zweitens, dass die Ukraine echte Garantien für die strikte Einhaltung des Istanbuler Abkommens bietet, insbesondere dass der humanitäre Korridor nicht für militärische Zwecke genutzt wird“.
Weiter führt das Gesprächsprotokoll aus, dass der russische Präsident „die Nichterfüllung des zweiten Teils des Istanbuler Abkommens festgestellt hat“. Damit bezieht er sich auf die Nicht-Ermöglichung der im Ankommen vorgesehenen Exporte russischer Agrarprodukte und Düngemittel auf die Weltmärkte. Hintergrund ist, dass Russland weltweit der größte Exporteur von Getreide ist und dabei die Ukraine um ein Vielfaches übertrifft. Wenn den westlichen Ländern, vor allem der EU und den USA, tatsächlich so viel daran liegt, in der dritten Welt eine Hungersnot zu verhindern, dann hätten sie eigentlich alles tun müssen, um eine zügige Ausfuhr russischer Lebens- und Düngemittel in die Wege zu leiten. Das ist bisher jedoch nicht geschehen.
Putin warf allerdings laut Gesprächsprotokoll dem Westen nicht vor, die diesbezüglichen russischen Exporte mit offiziellen Sanktionen zu blockieren. Tatsächlich haben sowohl die USA als auch die EU bekräftigt, dass diese Art von russischen Exporten nicht mit Sanktionen belegt würden. Trotzdem fanden keine Exporte statt und die russischen Produkte blieben in den Lagerhäusern der russischen Häfen liegen. Offensichtlich ist es den westlichen Akteuren doch gelungen, die internationalen Schiffstransportunternehmen davor abzuschrecken, Getreide oder Düngemittel aus russischer Produktion zu verladen.
Auf diesen Missstand wies Putin in seinem Gespräch mit Erdoğan hin und unterstrich, dass es doch „das vorrangige Ziel“ sein müsse, „Nahrungsmittel an die bedürftigsten Länder zu liefern, was jedoch in den drei Monaten, in denen das Istanbuler Abkommen in Kraft war, nicht erreicht worden ist“. Mit dieser Aussage spielte Putin auch darauf an, dass je nach Schätzungen – auch westlicher Beobachter – zwischen 50 und 85 Prozent der ukrainischen Lebensmittelexporte nicht in die bedürftigen Länder, sondern in die EU gingen. Damit wollten EU-Politiker den Druck auf die Lebensmittelinflation reduzieren, die in der EU bereits zu starken Protesten und Unruhen führte.
Putin dagegen hat laut Gesprächsprotokoll gegenüber Erdoğan Russlands Bereitschaft betont, den bedürftigen Ländern in Afrika erhebliche Mengen an Getreide und Dünger unentgeltlich zu liefern. Von diesem großzügigen, humanitären Angebot erfuhr man in den westlichen „Qualitätsmedien“ nichts.
Aber kehren wir zurück zu Putins Bedingungen, von denen er die Rückkehr Russlands in das Istanbuler Abkommen abhängig machte. Man kann davon ausgehen, dass die beiden Bedingungen erfüllt wurden. Doch auch davon erfahren wir nichts in unseren „Qualitätsmedien“. Dafür müssen wir auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums nachsehen. Dort finden wir folgende Passage: Demnach wurde nach dem Angriff auf die Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol „die Position Russlands dem Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres im UN-Sicherheitsrat mit Hilfe der Türkei und einer internationalen Organisation zur Kenntnis gebracht. Die erforderlichen schriftlichen Garantien der Ukraine über die Nicht-Nutzung des humanitären Korridors (…) für militärische Operationen gegen die Russische Föderation wurden erhalten und am 1. November dem gemeinsamen Koordinierungszentrum (des Istanbuler Abkommens in der Türkei) vorgelegt. (…) Die Russische Föderation ist der Ansicht, dass die erhaltenen Garantien zu diesem Zeitpunkt angemessen und ausreichend sind und nimmt die Umsetzung des (Istanbuler) Abkommens wieder auf“.
Auffällig ist, dass in der Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums von Putins zweiter Vorbedingung, nämlich eine „detaillierte Untersuchung des Vorfalls in Sewastopol“, keine Rede mehr ist. Daher kann davon ausgegangen werden, dass im Rahmen der schriftlichen Garantien, welche die Ukraine abgegeben hat, auch die Schuldfrage für die Vorfälle in Sewastopol geklärt und daher eine weitere detaillierte Untersuchung hinfällig wurde.
Zusammengefasst bedeutet das also, dass Erdoğan nach seinem Telefongespräch mit Putin den ukrainischen Präsidenten Selenskij angerufen und ihm die Sachlage erklärt hat. Weiter ist davon auszugehen, dass Moskau unwiderlegbare Beweise über die Herkunft der Drohnen dem UN-Generalsekretär Guterres vorlegte. Selenskij blieb daher nichts anderes übrig, als Russland die geforderten schriftlichen Garantien zu geben und zugleich die ukrainische Täterschaft einzugestehen, wenn er die für die Ukraine wichtigen Getreideexporte retten wollte.
Allerdings ist nicht anzunehmen, dass Moskau nicht weiß, dass auch schriftliche Garantien der Ukraine nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben sind. Die Missachtung der schriftlichen Minsker Abkommen, die sogar vom UN-Sicherheitsrat in internationales Recht umgewandelt worden waren, ist für die Verlässlichkeit von ukrainischen Garantien das beste Beispiel. Daher stellt sich die Frage: Warum hat sich Putin überhaupt auf ein solches Abkommen eingelassen? Dafür hat der russische Präsident einen guten Grund, der weniger mit der Ukraine, aber dafür umso mehr mit seiner Geo-Strategie zu tun hat.
Warum sollte Russland leichtfertig aus einem Abkommen aussteigen, in das der türkische Präsident Erdoğan so viel von seinem eigenen nationalen und internationalen Prestige investiert hat? Denn trotz aller Schwierigkeiten in den russisch-türkischen Beziehungen identifizierten beide Seiten mit großer diplomatischer Beharrlichkeit immer wieder Bereiche mit Win-win-Potential und unternahmen weitere Schritte zu einer erfolgreichen gegenseitigen Annäherung.
Im Internet kursieren in letzter Zeit Gerüchte, dass die Türkei ihre Drohnenlieferungen an das ukrainische Militär zurückgefahren oder sogar eingestellt hat. Auch tanzt die Türkei schon lange nicht mehr nach der Pfeife des Westens. Erdoğan und Putin nähern sich in der Syrien-Frage an, und die Beziehungen zwischen Ankara und Teheran haben sind zum Leidwesen Washingtons weiter verbessert. Eine Reihe türkischer Hotelketten und Banken bereiten sich aktuell darauf vor – gegen den Widerstand Washingtons –, die russische MIR-Kreditkarte als Zahlungsmittel zu akzeptieren, was den ohnehin florierenden Tourismus aus Russland in die Türkei noch weiter beflügeln wird.
Nachdem die EU jüngst versucht hat, als Vermittler im Konflikt zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien im Südkaukasus, also im Hinterhof der Türkei, Fuß zu fassen, empfing Putin in den letzten Tagen den Präsidenten von Aserbaidschan und den Premierminister Armeniens, anscheinend in Absprache mit und durch die Vermittlung der Türkei. Dem Vernehmen nach wurde dabei in Moskau ein großer Schritt in Richtung Verhandlungen über ein dauerhaftes Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan getan.
Das ist sowohl für die Türkei als auch für Russland gut, die beide misstrauisch gegenüber den Absichten der EU-Imperialisten sind. Denn das rohstoffreiche Aserbaidschan ist zwar ein Verbündeter der Türkei, hat aber auch gute Beziehungen zu Moskau. Vor dem Hintergrund der umfangreichen und sehr komplexen Beziehungen zwischen Russland und der Türkei, die hier nur fragmentarisch dargestellt wurden, relativiert sich für Moskau natürlich die Bedeutung des Verstoßes der Ukraine gegen das Istanbuler Getreideabkommen.