Sehenden Auges in den Abgrund
von Rainer Rupp
erschienen am 08.10.1998 in der Jungen Welt
Minimalismus zur Lösung der Krise bestimmte IWF-Jahrestagung
Die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank hat vor dem Hintergrund »der wohl schwierigsten globalen Herausforderung der letzten 50 Jahre« (US-Präsident William Clinton) stattgefunden. Unterschiedliche und sogar gegensätzliche Vorstellungen der wichtigsten kapitalistischen Länder darüber, wie die Architektur des globalen Finanzsystems zu reformieren ist, sind dabei deutlich zutage getreten und haben weitergehende Lösungsansätze verhindert. Geeinigt hat man sich nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: größere Transparenz, bessere Bankenaufsicht und mehr Eigenverantwortung. Kuriert wird an den Symptomen der Krise, nicht aber ihre Ursachen.
Dabei ist selbst in den imperialistischen Metropolen das Vertrauen in die Ikonen des Kapitals erschüttert. Die Pleite des gigantischen Hedge Fonds, (100 Milliarden-Dollar), der bis zu 40 Prozent Jahresgewinne durch riskante Spekulationen erwirtschaftet hatte, hat das Vertrauen der Anleger in diese Instrumente des Kapitals erschüttert. Die weltweiten Börseneinbrüche taten ihr übriges. Durch den Werteverfall der Aktien wurde weltweit bisher ein Vermögen von 4 000 Milliarden Dollar vernichtet, so die Schätzung eines Finanzexperten in der International Herald Tribune (IHT) Anfang des Monats. Und der IWF rechnet für 1998 mit einem Rückgang der weltweiten Produktion mit einem Wert zwischen 600 und 800 Milliarden Dollar als Kosten der Krise.
All dies wird einen Nachfragerückgang bewirken und sich zu einer kumulativen, selbst verstärkenden Spirale nach unten entwickeln, die auch die noch relativ robusten Volkswirtschaften Westeuropas und Nordamerikas in dem Sog erfassen könnte. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an das Treffen in Washington anläßlich der IWF-Jahrestagung, an dessen Rande sich auch die sieben mächtigsten Industrieländer (G7) zusammenfanden. Und die trafen sich Anfang der Woche wiederum mit den wichtigsten 15 Entwicklungsländern in der sogenannten G-22-Gruppe.
Die G-7-Länder kamen mit den unterschiedlichsten Vorstellungen zur Reform des IWF. Frankreich schlug vor, dem Internationalen Währungsfonds einen politischen Ausschuß auf Ministerebene beizuordnen, um so dem IWF mehr Befugnisse zu geben, ihn aber zugleich auch an die politische Kandare zu nehmen. Für die neoliberalen USA unannehmbar. Die BRD brachte den von Oskar Lafontaine inspirierten Vorschlag ein, für die Wechselkurse der wichtigsten Währungen Zielbandbreiten zu bestimmen, um so eine größere Stabilität zu erreichen. Da dies Marktinterventionen der betreffenden Länder voraussetzen würde, traf dieser Vorschlag bei den US-Amerikanern ebenfalls auf taube Ohren. Außerdem würde das nur die internationale Spekulation einladen. Es wäre ein Rückschritt zu einem System, das bereits in den 70er Jahren versagt hat, so die Gurus des Neoliberalismus, Kritiker Lafontaines von der deutschen Bundesbank inklusive.
Die Japaner wollten den industriellen Schwellenländern die Möglichkeit zeitlich begrenzter Kapitalkontrollen und fester Wechselkurse einräumen, um so die Kapitalflucht in Krisenzeiten zu verhindern. Von den USA abgelehnt, da nicht marktkonform. Auch Tokios zweite Idee, eine Art regionalen IWF für Asien einzurichten, stieß auf wenig Gegenliebe, da Washington befürchtet, dadurch an Einfluß zu verlieren. Der französische Finanzminister schlug vor, daß andere Weltregionen, ähnlich wie die Europäische Wirtschaftsunion, ihre eigenen Währungsunionen einführen. Und Großbritannien wollte am liebsten die Weltbank und den IWF teilweise zusammenlegen.
Da fast alle auf die USA blicken, um sie aus der Krise zu führen, setzte sich der amerikanische Reformplan mehr oder weniger durch. Da Washington den IWF als Instrument zur Umgestaltung der Entwicklungsländer nach neoliberalem Vorbild erhalten möchte, sind seine Reformen strikt marktkonform. Ohnehin stellten sie den kleinsten gemeinsamen Nenner für die anderen G-7-Länder dar. Demnach sollen alle 175 Mitgliedsländer des IWF dem Fonds in Zukunft umfassende Daten über ihre Wirtschafts-, Fiskal- und Geldpolitik zukommen lassen. Auch internationale Finanztransfers sollen durchsichtiger gemacht werden, damit die Länderfinanzrisiken besser eingeschätzt werden können. Das Ganze soll flankiert werden mit der Einführung internationaler Standards für Bewertungskriterien für Finanzpapiere, Finanzbuchführung usw. Letzteres ist besonders zeitaufwendig. Selbst wenn alles optimal laufen würde, würde es Jahre dauern, bis dieses neue System etabliert wäre. Ob die um sich greifende Krise solange wartet, ist eine andere Frage.
Für Feuerwehraktionen gegen die weitere Ausbreitung der Krise soll nach Vorstellung der USA innerhalb des IWF ein neuer Notfallfonds eingerichtet werden. Dabei haben die USA ganz besonders Lateinamerika im Blick, speziell Brasilien. US-Banken sind dort stark engagiert. Fällt Brasilien, dann zieht es die anderen südamerikanischen Länder mit sich. Als Resultat würde Wall Street – so die weitverbreitete Überzeugung – nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen. Und dann gäbe es für die kapitalistische Weltwirtschaft auf dem Weg nach unten keinen Halt mehr.
Woher das Geld für den neuen Notfall-Fonds des IWF kommen soll – Brasilien allein soll etwa 30 Milliarden Dollar an Hilfe benötigen -, wer also dafür zahlen soll, das ist noch nicht klar. Die Töpfe des IWF sind fast leer. Der US-Kongreß blockiert noch immer die 18 Milliarden Dollar, die die USA dem IWF aus vergangenen Verpflichtungen schulden. Und ob Japan und Europa mit zig Milliarden einspringen werden, um US-Banken in Südamerika aus der Bredouille zu helfen, ist fraglich. Wenn es ums eigene Geld geht, hört die Solidarität unter konkurrierenden Kapitalisten gemeinhin auf. Im Angesicht des drohenden Zusammenbruchs der Weltwirtschaft geht es diesmal aber um mehr. Der US- amerikanische Finanzexperte Carl Gewirtz schrieb Anfang Oktober in der IHT: »Nicht nur Geld steht auf dem Spiel, sondern das ganze neu entwickelte globale kapitalistische System.«