Sieg oder Zusammenbruch – Das ist hier die Frage
von Rainer Rupp
Der erste Tag der diesjährigen, vom US-Bloomberg-Konzern ausgerichteten Konferenz des Qatar Economic Forum (QEF) in Doha, der Hauptstadt des auf riesigen Erdgas-Vorräten sitzenden Golfstaates Katar, beinhaltete ein Bühneninterview des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit dem Chefredakteur der Bloomberg-Nachrichtenagentur, John Micklethwait. Mit allen möglichen Tricks hat der Fragesteller Micklethwait versucht, Orbán in Sachen Ukraine und China auf die „richtige“ US/NATO-Spur zu drängen. Aber der ungarische Ministerpräsident blieb unbeeindruckt.
Für seine Kritik an der Art und Weise, wie sich Washington und die EU-Führung in Brüssel in die inneren Angelegenheiten Ungarns einzumischen versuchen und sich anmaßen, diktieren zu können, was richtig und was falsch ist, erntete Orbán vom vornehmlich arabischen Publikum viel Beifall. Erneuten Applaus gab es dafür, als Orbán unterstrich, dass er sich in seiner Politik danach richte, was gut für sein Land sei, und das beinhalte auch, weiter gute Beziehungen zu Russland und China zu pflegen. Die entgegengesetzte Politik in Washington und der EU in Brüssel sei falsch und er werde die Interessen und die Zukunft seines Volkes nicht der Verfolgung dieser falschen Politik opfern.
Zum bewaffneten Konflikt im Donbass befragt, erklärte Orbán unverblümt, dass „die Ukraine den Krieg gegen Russland nicht gewinnen kann, es sei denn, die NATO schickt direkt Truppen – wozu sie nicht bereit ist und was Ungarn ohnehin strikt ablehnt“. Weiter führte er aus:
„Wenn man die Realität, die Zahlen, die Umgebung und die Tatsache betrachtet, dass die NATO nicht bereit ist, Truppen zu entsenden, ist es offensichtlich, dass es für die armen Ukrainer auf dem Schlachtfeld keinen Sieg gibt. Das ist meine Position.“
Zugleich sprach sich Orbán gegen jegliche Waffenhilfe für die Ukraine aus, da diese nur den Krieg verlängern und zum sinnlosen Tod von vielen weiteren Menschen führen wird, denn am Ende könne niemand gewinnen. Da aber weder die EU noch die Führung der Ukraine an Friedensverhandlungen interessiert seien, müssten Russland und die USA eine Vereinbarung treffen, um den Krieg zu beenden. Das sei „der einzige Ausweg“, so Orbán.
Derweil ist für die US/NATO-Eliten die Lage nach der russischen Eroberung der ukrainischen Festung Bachmut sehr prekär. Die ukrainischen Verluste in den monatelangen Kämpfen waren extrem groß, vor allem weil der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij persönlich Bachmut einen sehr hohen strategischen Stellenwert beigemessen hatte. Die Stadt sollte unter allen Umständen gehalten werden, koste es, was es wolle, an Material und Menschenleben. Letztlich aber wurde das Stadtgebiet von der russischen Söldnertruppe „Wagner PMC“ erobert, wobei die „Wagnerianer“ allerdings Unterstützung durch Artillerie- und Luftwaffeneinsätze der regulären russischen Armee hatten.
Nach jüngsten Angaben des „Wagner PMC“ Chefs Jewgeni Prigoschin gab es in Bachmut auf beiden Seiten hohe Verluste. Er sagte:
„Wir haben in Bachmut gegen überlegene Streitkräfte gekämpft, etwa 50.000 ukrainische Streitkräfte zerstört und bis zu 70.000 verwundet.
‚Wagner PMC‘ hatte 3,2-mal weniger [also 15.600] Tote als die Streitkräfte der Ukraine und etwa zweimal weniger Verwundete, [also 35.000].
Auf unserer Seite hatten wir in Bachmut [zu keinem Zeitpunkt mehr als] 50.000 Leute und die Streitkräfte der Ukraine hatten 82.000 auf der Gegenseite.
Das Ziel von Bachmut war nicht so sehr die Eroberung der Stadt selbst, sondern lag in der Schaffung des Fleischwolfs von Bachmut. Und in Bachmut haben wir alle zerstört, die wir zerstören sollten. Wir haben die Aufgabe erledigt.“
Die russische Artillerie ist der Ukraine trotz umfangreicher Westlieferungen an Qualität und Quantität haushoch überlegen. Es war diese russische Artillerie, die Bachmut den berüchtigten Namen „Fleischwolf“ gegeben hat. Denn auf Selenskijs Befehl sollte die Stadt um jeden Preis gehalten werden. Deshalb wurden immer neue ukrainische Brigaden in die Stadt und somit in das Feuer der russischen Artillerie geschickt. Letztere hatte sich im Laufe der Monate auf jede Koordinate, auf jeden Straßenzug und jeden Winkel der Stadt eingeschossen. Ganze ukrainische Brigaden wurden so aufgerieben und immer wieder durch neue Einheiten ersetzt, die zuvor mit zwangsrekrutierten jungen Männern aufgefüllt worden waren.
Nicht wenige westliche Militärexperten, wie zum Beispiel der international hoch geschätzte US-Oberst a. D. Douglas Macgregor, gingen seit Langem davon aus, dass die ukrainische Armee allein in Bachmut Zigtausende von Soldaten verloren hatte, während sich ihre Schätzungen über die Verluste der Wagner-Einheiten in Grenzen hielten. Zur Begründung argumentierten sie:
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Erstens sind die Wagner-Kämpfer professionell ausgebildet und hervorragend bewaffnet – im Gegensatz zu Teilen ihrer Gegner auf ukrainischer Seite, was sich durch weitaus geringere Verluste bei den Häuser- und Straßenkämpfen in Bachmut bemerkbar gemacht hat, und
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zweitens, die Wagner-Kämpfer lagen seltener unter massivem Beschuss der ukrainischen Artillerie, der zudem in den letzten Monaten immer weniger Munition zur Verfügung stand, und
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drittens befanden sich die Wagner-Kämpfer die meiste Zeit in der Rolle der Verteidiger der von ihnen zuvor eroberten Positionen, während die ukrainischen Truppen immer wieder unter hohen Verlusten angreifen mussten, um die von Wagner gehaltenen Positionen zurückzuerobern.
Darauf spielt Wagner-Chef Prigoschin mit seiner Erwähnung der Schaffung des „Fleischwolfs von Bachmut“ an. Der wurde laut Prigoschin auf Befehl von General Sergei Surowikin, russischer Oberkommandeur der Front in der Ost-Ukraine, als bewusste Taktik eingesetzt, um möglichst viele Soldaten der ukrainischen Armee anzuziehen und zu „zerstören“.
Für das Selenskij-Regime in Kiew und seine US/NATO-Helfer ist der Fall Bachmut nicht nur eine bittere militärische Niederlage, sondern auch eine politische Blamage, die so gar nicht in ihr Narrativ von „die Ukraine gewinnt“ passt. Dieses Narrativ wollen die Vertreter der US-geführten „regelbasierten Ordnung“ rund um die Welt unbedingt aufrechterhalten. So konnte man einen Tag nach Orbáns Auftritt beim Qatar Economic Forum (QEF) in Doha US-General a. D. David Petraeus hören, wie er im Gespräch mit dem uns bereits bekannten Bloomberg-Chefredakteur John Micklethwait in glühenden Farben den bevorstehenden Sieg der ukrainischen Armee beschrieb und den drohenden Zusammenbruch und die womöglich planlose Flucht der russischen Streitkräfte im Donbass schilderte.
Petraeus war nach dem völkerrechtswidrigen, unprovozierten US-Angriffskrieg gegen Irak im Jahr 2003 der Oberkommandeur der brutalen US-Besatzungstruppen, einschließlich der US-Foltergefängnisse wie Abu Ghraib. Wegen seiner so erworbenen Verdienste wurde er vom US-Senat ohne Gegenstimme später zum CIA-Direktor gemacht. Seit den letzten zehn Jahren ist er Partner in der international operierenden Vermögensverwaltungs- und Investment-Firma KKR. Mit all diesen Qualifikationen wurde Petraeus im Laufe der Jahre immer wieder mal von einschlägigen US-Medien wie Foreign Affairs in die Liste der 100 Top-Intellektuellen aufgenommen. So ist der US-Ex-General und Ex-CIA-Chef und Partner einer Vermögensanlage-Firma von einer Aura umgeben, die Achtung gebietet, denn der Mann weiß, wovon er spricht.
Auf die einführende Frage des Interviewers, ob Viktor Orbán recht habe, wenn er sagte, die Ukraine könne den Kampf nicht gewinnen, antwortet Petraeus:
„Ich denke, er [Orbán] steht völlig auf der falschen Seite dessen, was mal Geschichte sein wird. In dieser Hinsicht denke ich, dass die Ukraine zeigen wird, was passieren kann, wenn Streitkräfte gut ausgebildet und mit westlichen Waffen ausgerüstet sind. Die Ukraine hat erhebliche zusätzliche Streitkräfte, die gut geführt sind, im Gegensatz zu den russischen Kräften, die sich übernommen haben und jetzt über 15 Monate im Kampf stehen.
Die Russen haben enorme Verluste erlitten, ein Vielfaches der Verluste, die sie in den ersten Monaten dieses Krieges hatten, auch ein Vielfaches der Verluste, die sie während eines ganzen Jahrzehnts in Afghanistan erlitten haben. Sie sind nicht gut ausgebildet, sie haben keinen Zusammenhalt. Sie sind nicht gut ausgerüstet. Sie werden nicht gut geführt. Tatsächlich ist das Befehlsklima missbräuchlich. Und sie werden vor der schwierigsten aller Aufgaben stehen, nämlich sich unter Beschuss vor dem Feind zurückzuziehen, weil sie sich vor ihren befestigten Verteidigungslinien befinden. Das wird nicht gut für sie ausgehen. Tatsächlich denke ich, dass sie zusammenbrechen werden, in einigen Fällen sich sogar auflösen.“
Hier noch einige Auszüge, was Petraeus über die angeblich bevorstehende ukrainische Großoffensive zu sagen hatte:
„Ich denke, die Ukrainer führen sehr beeindruckende kombinierte Waffenoperationen durch, und daher ist dies keineswegs ein Fall, den sie nicht gewinnen können. Sie haben westliche Panzer, westliche Infanterie-Kampffahrzeuge, Infanterie, die die Panzerabwehrlenkraketen von den Panzern fernhält, Artillerie und Mörser, die sie unterdrücken, elektronische Kriegsführung, die das russische Kommando- und Kontrollsystem blockiert, Luftverteidigung, die die russische Luftwaffe außer Gefecht setzt, Drohnen, die Ihnen helfen, in der Tiefe Ziele zu treffen, und Logistik direkt hinter ihnen, mit zusätzlicher Nahrung, Treibstoff, Munition und medizinischer Hilfe, die direkt hinter den Kampftruppen folgt.
Die Ukrainer haben mindestens sechs neue Panzerbrigaden. Und dann haben sie viele zusätzliche Brigaden mit zusätzlichen Elementen zur Kampfunterstützung und Kampfdienstunterstützung, und ich denke, sie werden es viel besser machen, als die Leute denken.“
Das ganze Interview mit Petraeus kann über diesen Link gesehen werden.
Wenn ein solch hochdekorierter Mann wie Petraeus mit weltweiten Verbindungen zu höchsten Stellen mit so vielen „Fakten“ derart überzeugend darlegt, dass die Ukraine mit ihren vielen Assen im Ärmel gar nicht anders kann, als zu gewinnen, wer kann da widersprechen. Wer in den deutschen Regierungs- und Redaktionsstuben will da dem US-amerikanischen Experten nicht glauben. Oder – anders gefragt – wer wird den Mut aufbringen, bei dieser „Faktenlage“ aus Fake News den Worten des amerikanischen intellektuellen Überfliegers, des Militär- und Geheimdienstexperten Petraeus Zweifel zu äußern?
Trotz der aktuellen Hochkonjunktur für Kriegspropaganda mithilfe von Fake News über Ukraine und Russland gibt es von Zeit zu Zeit immer wieder mal einen Glücksfall, bei dem das interessierte Publikum in einem auf militärische Analysen spezialisierten Medium einen Blick von der in Kriegszeiten besonders scheuen Wahrheit erhaschen kann. Im vorliegenden Fall geht es um einen Bericht der „altehrwürdigen“ Denkfabrik des britischen Militärs Royal United Services Institute (RUSI) vom 19. Mai unter dem Titel „Meatgrinder: Russian Tactics in the Second Year of Its Invasion of Ukraine“, (Fleischwolf: Russische Taktik im zweiten Jahr seiner Invasion in der Ukraine).
In ihrer Studie weisen die Autoren Dr. Jack Watling und Nick Reynolds darauf hin, dass die russische Armee „eine Struktur ist, die im Laufe der Zeit besser mit operativen Herausforderungen umgegangen ist und auch gelernt hat, neue Bedrohungen zu antizipieren“. Laut den RUSI-Experten stellen die russischen Streitkräfte ein ernstes Problem für die Streitkräfte der Ukraine dar, deren Verluste auf 300.000 bis 500.000 Soldaten geschätzt werden. Hunderte von Soldaten und Söldnern gehen pro Tag, meist in langwierigen Stellungskämpfen, verloren.
Die hohen Verluste der Ukrainer stellten laut der britischen Experten ein Paradoxon dar, da die Verluste bei der Verteidigung in der Regel geringer sind als die bei der Offensive. Das Verhältnis beträgt aufgrund von Erfahrungswerten eins zu zwei oder sogar eins zu drei. Aber in der Ukraine würde diese Regel auf den Kopf gestellt, nicht etwa, weil die ukrainischen Soldaten Angst haben oder nicht in der Lage sind, an der Front zu kämpfen, und schon gar nicht wegen Waffenknappheit. [Anmerkung: NATO-Lieferungen haben die Neo-Banderisten nach Russland zur am schwersten bewaffneten Armee Europas gemacht.] Die Erklärung für das schlechte Abschneiden der ukrainischen Armee liege vielmehr darin, dass russische Truppen schnell aus ihren Fehlern lernen, Taktiken ändern und verbessern und sich an jede neue militärische Situation schnell anpassen.
Die Briten berichten zudem, dass Russlands elektronisches Kriegsführungssystem (EW) nach wie vor sehr leistungsfähig sei, wobei mindestens ein Hauptsystem über etwa alle zehn Kilometer der Frontlinie verteilt sei.
„Diese Systeme konzentrieren sich hauptsächlich auf die Bekämpfung von Drohnen. Die ukrainischen Drohnenverluste liegen nach wie vor bei rund 10.000 pro Monat. Das russische REB-System scheint auch das Abfangen und Entschlüsseln ukrainischer 256-Bit-verschlüsselter taktischer Motorola-Kommunikationssysteme in Echtzeit zu erreichen, die vom ukrainischen Militär häufig verwendet werden“, sagten die Experten.
Es wird auch darauf hingewiesen, dass die russischen Luftverteidigungssysteme direkt mit leistungsstarken Radarstationen verkabelt sind. Im Juli 2022 habe das russische Militär sein Hauptquartier in befestigte Strukturen verlegt.
„Sie verbanden auch ihr Hauptquartier mit dem ukrainischen Telekommunikationskabelnetz, das bereits in den von der russischen Armee eroberten Gebieten vorhanden war, was die Möglichkeit des Abhörens von Funk und seine elektronische Signatur erheblich verringert.“
Bezüglich der militärischen Flugtechnik haben laut russischem Verteidigungsministerium die russischen Streitkräfte seit dem 24. Februar 2022 mindestens 480 ukrainische Kampfflugzeuge und Militärhubschrauber zerstört. Auch gibt es auf ukrainischer Seite keine funktionierenden Militärflugplätze mehr. Besonders heben die britischen Experten den sehr erfolgreichen Einsatz der FAB-500-Kilo-Bomben durch die russische Luftwaffe gegen ukrainische Stellungen hervor.
Diese FAB-Bomben werden aus mittlerer Höhe aus etwa 70 Kilometern Entfernung vom Ziel abgeworfen und gleiten mit Flügeln versehen und GPS-gesteuert punktgenau ins Ziel. Die Experten vermuten, dass die russische Luftwaffe ihre Piloten nicht der ukrainischen Luftverteidigung aussetzen will, weshalb die FAB-Bomben aus sicherer Entfernung ausgeklinkt werden. In diesem Zusammenhang verweisen die Experten darauf, dass das „ukrainische Militär festgestellt habe, dass Russland über große Bestände an FAB-500 verfügt und diese systematisch zu Gleiter-Bomben aufrüstet“. Zugleich weisen sie auch auf russische Vorteile bei Raketen, einschließlich der Mehrfachraketenwerfer (MLRS), hin.
„Die russische Artillerie hat auch ihre Fähigkeit verbessert, aus mehreren Positionen zu schießen und Positionen schnell zu wechseln, wodurch die Anfälligkeit für Gegenbatteriefeuer verringert wird“, berichten die RUSI-Analysten.
Für die russischen „Ingenieurstruppen“, womit die Pionier-Truppen gemein sind, hatte die britische Studie ein besonderes Lob, denn die hätten sich „als einer der stärksten Zweige des Militärs erwiesen“. Weiter heißt es:
„Russische Pioniere errichten entlang der gesamten Front komplexe Hindernisse und Feldbefestigungen – betonbefestigte Gräben und Kommandobunker, Drahtzäune, Igel, Panzerabwehrgräben und komplexe Minenfelder. Das russische Minenräumsystem ist umfangreich und kombiniert Panzerabwehr- und Anti-Personenminen, wobei letztere häufig mit mehreren Aktivierungsmechanismen ausgestattet sind, um die Minenräumung zu erschweren.“
Dann kommen die RUSI-Experten zu der für Ex-US-General Petraeus und für die NATO enttäuschenden Schlussfolgerung:
„All dies ist ein ernstes taktisches Problem für ukrainische Offensivoperationen.“