Spiel mit dem nuklearen Feuer

Spiel mit dem nuklearen Feuer

von Rainer Rupp

erschienen am 09.12.1998 in der Jungen Welt

NATO-Strategie-Debatte: Die unsterbliche Erstschlagdoktrin (Teil II und Schluß)

Über ein Jahrzehnt wurde an der »Flexible Response«, der Option des atomaren Erstschlags der NATO gegen die Sowjetunion, herumgearbeitet. Richtig zufriedengestellt wurden die deutschen Erstschlagspezialisten erst 1983, als die neuen US-Mittelstreckenwaffen Pershing II und Cruise Missiles in der BRD und Italien stationiert wurden. Sie reichten bis tief ins sowjetische Territorium, und die US- Regierung von Ronald Reagan machte kein Hehl daraus, daß sie auch dafür programmiert waren. Diese Entwicklung hatte ihren Ursprung in einer kleinen, aber einflußreichen amerikanischen »Widerstandsbewegung« gegen die angeblich »fatalistische« Hinnahme der eigenen »sicheren Zerstörung« im Falle eines strategischen Schlagabtauschs. Für diese Leute war SALT I ein Verrat. Mitte der 70er Jahre hatten sich die meisten dieser Leute im »Committee on the Present Danger«, dem Komitee für die akute Gefahr, zusammengefunden.

Ronald Reagan und die meisten seiner späteren sicherheitspolitischen Berater waren dort Mitglieder. Eine Strategie der »Mutual Assured Destruction« (MAD), also der gegenseitigen sicheren Zerstörung, sei in der Tat »mad«, was auf englisch »verrückt« oder »wahnsinnig« bedeutet. Ein Atomkrieg mit den Sowjets, so das Argument, sei nicht auszuschließen, und deshalb müßte sichergestellt werden, daß er auch mit möglichst geringen amerikanischen Opfern geführt und gewonnen werden kann. Dazu müßten neue Waffen und Technologien her. Und erst recht müßte das »Reich des Bösen« in der Sowjetunion wissen, daß die USA nicht vor einem Atomkrieg zurückschreckten. Wenn diese Vorstellungen auch an den Realitäten jener Zeit mit ihren Tausenden von Interkontinentalraketen, viele mit thermonuklearen Mehrfachsprengköpfen, total vorbeigingen, so trat die Reagan-Regierung doch 1980 unter dieser höchst aggressiven Prämisse ihr Amt an.

Für die Westdeutschen schuf das die idealen Voraussetzungen, die Ankoppelung der amerikanischen strategischen Nuklearwaffen an die konventionelle Kriegsführung und taktischen Atomwaffen in Europa wiederherzustellen. Federführend bei diesem Unternehmen war der SPD- Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er erfand die »Raketenlücke« in Europa und bestand auf der Modernisierung der amerikanischen Atomwaffen mit weitreichenden Mittelstreckenträgern. Als Vorwand diente die Einführung der neuen sowjetischen SS-20- Mittelstreckenrakete, mit der die Sowjetunion seit 1976 ihre alten SS-4 und SS-5 in Osteuropa ersetzte. Die neue SS-20 war zuverlässiger, mobiler, treffsicherer und hatte eine größere Reichweite – bis Portugal. Dies waren technische Verbesserungen. Strategisch brachte die SS-20 der Sowjetunion jedoch keine neuen Vorteile. Die Ziele in Europa, die die SS-20 nun erreichen konnte, waren bereits vorher von den strategischen Waffen abgedeckt worden, so daß sie für die Sowjetunion keine neuen Optionen schuf.

Dafür gab sie aber Bundeskanzler Schmidt ein Argument in die Hand, von einer neuen nuklearen Bedrohung Europas zu sprechen, die nur durch die Stationierung gleichwertiger amerikanischer Systeme neutralisiert werden könnte.

Reduzierte Vorwarnzeit

Die deutschen Forderungen stießen bei dem friedliebenden und auf internationalen Ausgleich bedachten US-Präsidenten Carter auf wenig Gegenliebe (seit 1945 war Carter der einzige US-Präsident, der nicht irgendwo auf der Welt einen Krieg führte). Aber in den USA war die strategische Diskussion durch das »Committee on the Present Danger« bereits derart vergiftet, – der Präsident wurde als Angsthase und Weichei beschimpft – daß sich die Carter-Regierung, die ja wiedergewählt werden wollte, nicht dem neuen Trend entziehen konnte. Zugleich verlangten vor allem die Deutschen die Stationierung der neuen Waffen als Beweis für den ungebrochenen amerikanischen Willen, die BRD und Europa zu verteidigen. Ende 1979 wurde der NATO- Vorschlag zur Modernisierung der amerikanischen nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa von der Allianz angenommen. Nur kurze Zeit später wurde Ronald Reagan neuer US-Präsident und setzte die Modernisierung energisch in die Tat um.

Im Unterschied zur SS-20 für die Sowjetunion eröffnete die Modernisierung der US-Mittelstreckenwaffen in Europa den Amerikanern neue strategische Optionen. Die äußerst zielgenaue PershingII schien dafür besonders geeignet. Sie konnte in zehn bis zwölf Minuten Moskau erreichen, was die Vorwarnzeit für die Sowjetunion erheblich reduzierte. Zusätzlich alarmiert waren die sowjetische Regierung durch den von den Amerikanern bekundeten Willen, im Ernstfall schnelle und überraschende Enthauptungsschläge gegen die politischen und militärischen Schaltstellen der Sowjetunion zu führen, um diese zu lähmen und so womöglich einem strategischen Gegenschlag zu entgehen. Im Krisenfall verlangte diese neue Lage von den Sowjetunion wiederum eine schnellst mögliche Reaktion, womöglich Überreaktion.

Bestürzt durch die äußerst aggressive Rhetorik der Reagan- Regierung, die durch entsprechende Taten untermauert wurde, glaubten damals in Moskau viele an einen bevorstehenden Krieg mit der NATO. 1983 wurden dann die ersten Pershing II und Cruise Missiles in der Bundesrepublik und in Italien ins Feld geführt. Nicht umsonst bezeichnen heute viele, auch westliche Strategie-Experten 1983 als eines der gefährlichsten Jahre im Kalten Krieg.

Trotz der Massenproteste der Bevölkerung gegen die nukleare Modernisierung der NATO und der gefährlichen Zuspitzung der Lage waren Kanzler Schmidt und seine nuklearen Erstschlagplaner mit der Entwicklung höchst zufrieden. Endlich waren die Bedingungen der Doktrin der »Flexible Response« in die Tat umgesetzt. Die Verbindung zu den amerikanischen strategischen Atomwaffen war hergestellt, denn im Ernstfall würden die in Europa stationierten Mittelstreckenraketen per Erstschlag nicht mehr nur in Osteuropa, sondern auch auf sowjetischem Territorium explodieren. In den Kriegsspielen der NATO wurden der Erstschlag und die dafür notwendigen politischen, militärischen und technischen Freigabeprozeduren fleißig geübt, so daß bestimmte Verhaltensmechanismen geradezu automatisiert wurden.

Aus Sicht der Bonner Hohepriester der »Flexible Response« dauerte dieser Idealzustand jedoch nicht lange. Auch die Reagan-Regierung wurde von den Realitäten und Gefahren des thermonuklearen Zeitalters eingeholt. Die kriegstreiberische Rhetorik wich und machte ernsthaften Verhandlungen und schließlich Abkommen mit Moskau Platz. Dort war 1985 Gorbatschow an die Macht gekommen. Im Dezember 1987 wurde beim Gipfeltreffen in Washington die sogenannte Null-Lösung von allen Seiten, notgedrungen auch von den Westdeutschen, akzeptiert, die die Abschaffung der sowjetischen und der amerikanischen atomaren Mittelstreckenwaffen in Europa besiegelte. Einige Jahre später war der Kalte Krieg zu Ende. Die DDR war verschwunden. Der Warschauer Vertrag hatte sich aufgelöst. Die Sowjetunion war zerfallen.

Völkerrechtswidrige Doktrin

Geblieben ist die NATO mit ihrem Beharren auf der mittlerweile als völkerrechtswidrig erklärten Doktrin des Ersteinsatzes von Atomwaffen. Eine Drohung, die nun auch noch im Rahmen des neuen strategischen Konzepts der NATO auf andere Weltregionen außerhalb des traditionellen Zuständigkeitsbereiches der NATO ausgedehnt werden soll. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, an welche Art von Erstschlag die NATO bzw. die USA denken? Wie dargestellt, gab es verschiedene »Spielarten« des Erstschlags, von Hiroshima über den »präventiven« Erstschlag bis hin zur »Flexible Response«.

Wenn sich die NATO in Zukunft weltweit in regionale Konflikte einmischt, soll dann die Drohung mit oder die Durchführung des atomaren Erstschlages erfolgen, wenn die eigenen Verluste zu groß werden? Als damals einzige Atommacht hatten die USA keine Skrupel, genau das in Hiroshima zu tun. Und seither? Als die amerikanischen Verluste in Korea und Vietnam zu groß wurden, wurde der Einsatz von Atomwaffen ernsthaft erwogen. Daß es nicht soweit kam, lag hauptsächlich daran, daß die amerikanischen Planer die Reaktion der Sowjetunion nicht richtig abschätzen konnten.

So lange die Sowjetunion noch nuklear schwach war, wollte Curtis LeMay sie atomar in die Steinzeit zurückbomben. Die Absicht eines einzelgängerischen verrückten Generals und Chefs der strategischen US- Luftkommandos? Keineswegs. LeMay hatte viele Anhänger in höchsten politischen Positionen. Eine nicht wiederholbare historische Situation? Falsch! Kürzlich veröffentlichte US- Regierungsdokumente belegen, daß die US-Regierung Ende 1963 einen nuklearen Angriff auf die Atominstallationen der VR China plante, um die Entwicklung chinesischer Atomwaffen zu verhindern. Auch dieser Plan scheiterte an der Unabwägbarkeit der möglichen sowjetischen Reaktion.

Wie es in Zukunft in der Welt zugehen soll, beschrieb Mitte August Robert M. Gates, ehemaliger Chef der CIA, in der »New York Times« vom 18. August 1998: An erster Stelle gelte es, »das amerikanische Volk von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Rest der Welt anzuführen und weltweit amerikanische Interessen zu vertreten, selbst dann, wenn feststeht, daß dies einen hohen Blutzoll und viel Geld kosten wird.« Der Artikel von Mr. Gates war gegen »terroristische Gruppierungen gerichtet«, die sich den weltweiten Interessen der US-Regierung widersetzen. Daß die US-Regierung sogar den Einsatz von Atomwaffen gegen solche Gruppierungen vorsieht, konnte man kürzlich einer gemeinsamen Studie des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) und des British American Security Information Councils (BASIC) entnehmen. Dies, so die Studie, sieht zumindest die »Doktrin für teilstreitkräfteübergreifende nukleare Gefechtfeldoperationen« vom 9. Februar 1996 vor, die die Unterschrift des Vorsitzenden des US-Generalstabs trägt. Glück für die PLO des Palästinenserführers Arafat und den ANC von Nelson Mandela. Seit wenigen Jahren gelten sie nicht mehr als »terroristische Gruppierungen«, die den amerikanischen Interessen im Wege stehen. Andere werden in Zukunft vorsichtiger sein müssen.

Der Ersteinsatz von Atomwaffen zieht sich wie ein roter Faden durch die strategischen Pläne der US-Regierung. Jetzt, da sie keine Rücksicht mehr auf sowjetische Reaktionen zu nehmen braucht und da sie auch keine neuen ernsthaften Gegner hat, ist da die Befürchtung so abwegig, daß sie versucht sein wird, ihr Machtmonopol inklusive Erstschlagdrohung und Durchführung erst recht zur Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen? Um die moralischen und politischen Kosten eines solchen Vorgehens auf möglichst viele Schultern zu verteilen, sollen die NATO und Deutschland in die weltweiten Operationen eingebunden werden. Von den Vertretern der deutschen Finanz- und Wirtschaftskonzerne wird diese Entwicklung freudig begrüßt, versprechen sie sich doch an der Seite der Amerikaner die weltweite Durchsetzung auch ihrer Interessen. Auf dieser Ebene ist die Durchdringung mit amerikanischem Kapital ohnehin weit fortgeschritten (jüngstes Beispiel: die Fusion der Deutschen Bank mit einem amerikanischen Partner zum größten Finanzkonzern der Welt).

Zurück im Kalten Krieg

Auch die Öffentlichkeit wird seit geraumer Zeit auf die neue nationale Aufgabe eingestimmt, daß das größere Deutschland endlich weltweit seine größere Verantwortung auch militärisch wahrnimmt. Das geht aber nur im Verein mit den Amerikanern und im Rahmen der NATO. An der NATO darf in keinem Fall gerüttelt werden, selbst wenn deren Erstschlagdoktrin völkerrechtswidrig ist. Eine Debatte darüber könnte das ganze neue strategische Konzept in Frage stellen, das im April 1999 verabschiedet werden soll. Genau das aber könnte durch die Initiative von Außenminister Fischer passieren, der über die Doktrin des nuklearen Erstschlags reden will. Damit hat Fischer in ein Wespennest gestochen. »Das deutsche Ansinnen hat die Clinton- Regierung schockiert und verärgert« (Washington Post, 23. 11. 98). Der NATO-Generalsekretär war konsterniert. London und Paris machten Front. Die deutschen Erstschlagfans liefen Sturm.

»Flexible Response« sei ein integraler Bestandteil der bewährten NATO-Strategie, und so müßte es auch bleiben, tönte es nicht nur aus Washington. Jede Abweichung von der Strategie der Abschreckung könnte schwerwiegende Folgen für die Glaubhaftigkeit der militärischen Verpflichtungen der NATO haben. Man fühlt sich wieder mitten in den Kalten Krieg versetzt. Unter den damaligen Bedingungen ließ sich der Strategie der »Flexible Response« mit ihrer Erstschlagdoktrin eine gewisse Logik abgewinnen, wenn sie auch wahnwitzig gefährlich war und keinen Raum für irrationales Verhalten ließ. Erklärtes Ziel der Strategie war es, einen konventionellen Krieg in Europa zu verhindern. Im Rahmen des neuen strategischen Konzepts der NATO soll jedoch die Erstschlagdoktrin in andere Weltregionen exportiert werden, wo sich die NATO in womöglich schon ausgebrochene konventionelle Kriege einmischt. Wer nicht erkennt, daß es sich hier um ein neues, höchst gefährliches Spiel mit dem nuklearen Feuer handelt, muß blind sein.

»Wir sind der Meinung, daß die deutsche Seite fehlerhafte Logik und Scheinargumente benutzt«, meinte dagegen ein hoher US-Regierungsbeamter gegenüber der Washington Post. So getadelt, beeilte sich Verteidigungsminister Rudolf Scharping bei seinem Antrittsbesuch in den USA, die Wogen zu glätten. Es gäbe keinen deutschen Sonderweg in der NATO. Nicht mit ihm. Zurück in Deutschland, versuchte er, Fischer in die Schranken zu verweisen und reklamierte für sich und sein Verteidigungsministerium die Federführung in Fragen der militärischen Strategie. Das war ein Versuch, die Diskussion abzuwürgen, bevor sie richtig beginnen konnte.

Aber Herr Scharping war schlecht beraten, und mit seiner Meinung liegt er falsch. Zwar ist die Umsetzung der Erstschlagdoktrin Angelegenheit des Verteidigungsministeriums, die Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der Option des Erstschlags ist jedoch vorrangig eine bündnispolitische Angelegenheit und fällt somit in den Zuständigkeitsbereich des Außenministeriums.