Staatliche Konspiration

Staatliche Konspiration

von Rainer Rupp

erschienen am 07.10.1999 in der Jungen Welt

Italienischer Richter klagt an: Amerikanische Jäger schossen 1980 Passagiermaschine ab

Am 31. August diesen Jahres leitete in Italien der Richter Rosario Priore Strafverfahren wegen Verrats gegen einige der höchstangesehenen Militärs seines Landes ein. Grund: Sie hätten beim Versuch, die italienisch- amerikanischen Beziehungen zu schützen, seine Nachforschungen behindert. Richter Priore hatte kurz zuvor seinen 5 000seitigen Untersuchungsbericht über eine der bizarrsten und mysteriösesten Tragödien der italienischen Nachkriegszeit vorgelegt, in dem er unumwunden die amerikanische und die italienische Regierung der Konspiration beschuldigte; eine Verschwörung zur Vertuschung der Umstände, die am 27. Juni 1980 zum Absturz zweier Flugzeuge geführt hatten: einer zivilen italienischen Passagiermaschine vom Type DC 9 auf einem Inlandsflug und eines libyschen Düsenjägers vom Typ MiG 23 (siehe jW vom 28. August 1998).

Die DC 9 mit 81 Passagieren an Bord war an jenem Tag unter bis heute noch nicht gänzlich geklärten Umständen urplötzlich vom Radarschirm verschwunden. Es gab keine Überlebende. Viel später wurden die Überreste des Flugzeuges weit zerstreut auf dem Meeresgrund gefunden, geborgen und dann in mühsamer Kleinarbeit in einem Hangar zusammengesetzt. Bei dieser Arbeit wurde dann deutlich, daß die Zivilmaschine von einer Rakete abgeschossen worden war.

Noch mühsamer als die technischen Kleinarbeiten sollten sich die langjährigen Nachforschungen des Untersuchungsrichters herausstellen. Immer wieder endeten diese in Sackgassen, weil auf rätselhafte Weise alle ermittelten Zeugen, die bei der Aufklärung des Vorfalls hätten helfen können, vor der richterlichen Vernehmung entweder durch merkwürdige Krankheiten, Unfälle oder Selbstmorde gestorben sind. Einer dieser »Unfälle« war die Katastrophe von Ramstein, bei der im August 1988 drei italienische Piloten und 67 Zuschauer einer Flugshow in der Pfalz ums Leben kamen. Zwei der getöteten Piloten sollten wenige Tage nach dem Unglück vor einem Untersuchungsrichter über die Umstände des Absturzes der DC 9 aussagen. Flugkapiten Nutarelli hatte angekündigt, endlich Licht in die mysteriöse Angelegenheit bringen zu wollen.

Und auf rätselhafte Weise erwiesen sich auch alle relevanten Logbücher, Radaraufzeichnungen und ähnliche Berichte ausgerechnet für den 27. Juni 1980 für die Umgebung des Abschußortes als fehlerhaft. Bei den routinemäßigen Radaraufzeichnungen der Luftraumüberwachung waren zum Beispiel ausgerechnet die entscheidenden 20 Minuten vor und nach dem Absturz der DC9 irrtümlich gelöscht worden.

»Schönwetterturbulenzen«

Wann immer der Richter während seiner neun Jahre dauernden Untersuchung glaubte, neue Beweismittel ausgegraben zu haben, stellte sich anschließend heraus, daß schon jemand anders vor ihm da gewesen sein mußte. Kein Wunder, daß sich im Laufe der Zeit in den Medien eine wahre Schwemme von Verschwörungstheorien entwickelte. Doch die Wirklichkeit scheint nicht weniger alarmierend.

Die tatsächlichen Verschwörer befinden sich nach der Überzeugung von Richter Priore in den höchsten Militärstäben seines Landes. Trotz aller Gründlichkeit beim Versuch, Beweise zu beseitigen, ist ihnen das Beiseiteschaffen jedoch nicht vollkommen gelungen. In seinem Bericht weist der Richter alle von US- Regierungsexperten vorgebrachten Erklärungen für den DC-9-Absturz – etwa den, die Maschine sei wegen sogenannter Schönwetterturbulenzen abgestürzt – als reine Spekulation zurück. Ebenso alle Versuche, den Absturz als Resultat einer Explosion im Flugzeuginnern zu erklären. Richter Priore weist auch nach, daß die libysche MiG 23 nicht wegen Spritmangels notlanden mußte, sondern abgeschossen worden war und zwar am 27. Juni, am Tag des Abschusses der DC 9 und nicht erst drei Wochen später, am 18. Juli, wie die amerikanischen und italienischen Militärs behaupteten.

In seinem Bericht geht Richter Priore davon aus, daß NATO-Militärflugzeuge über dem Tyrrhenischen Meer vor der italienischen Küste in einen Luftkampf mit der libyschen MiG 23 verwickelt waren. Dabei wäre nicht nur die MiG, sondern, wenn auch unabsichtlich, die zivile DC- 9-Passagiermaschine abgeschossen worden. Dies wird sowohl von der NATO als auch von der amerikanischen und der italienischen Militärbehörde heftig bestritten; sie verneinen weiterhin jeden Zusammenhang zwischen dem Absturz der MiG und der DC9.

Für Richter Priore, der sich in seiner 34jährigen beruflichen Laufbahn hauptsächlich mit Terrorismus beschäftigt hat, stellen die reihenweise verschwundenen Aufzeichnungen über das tödliche Ereignis nichts anderes als eine ausgewachsene Verschwörung dar. Obwohl er nicht beweisen kann, daß die DC 9 von amerikanischen Flugzeugen abgeschossen wurde, macht er doch in seinem Bericht deutlich, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach US-amerikanische waren. Er betont, daß die amerikanische Regierung zuerst behauptet hatte, daß keines ihrer Flugzeuge zu jener Zeit irgendwo in der Nähe der Absturzstelle der DC 9 gewesen sei. Später hatte Washington dann zugegeben, daß fünf amerikanische Jagdbomber zur gegebenen Zeit am fraglichen Ort gewesen sind, allerdings unbewaffnet. Auf weitere Fragen bekam Richter Priore von der US- Botschaft in Rom dann jedoch nur noch unbefriedigende Antworten, die sich hinter dem Verweis auf »militärische Geheimnisse« versteckten.

Im Radarschatten der DC 9

In seinem Bericht geht Richter Priore davon aus, daß die libysche MiG 23 vom Norden kommend eine libysche Transportmaschine vom Typ C 130 eskortiert hatte. Bei der C 130 handelte es sich um eine von mindestens acht solcher Maschinen, die in den Jahren 1979 bis 1980 von einem italienischen Unternehmen in Venedig umgebaut worden waren. Die in Frage kommende libysche C 130 flog demnach an jenem 27. Juni 1980 von Venedig in südlicher Richtung, außerhalb des italienischen Luftraums entlang der italienischen Küste nach Tripolis in Libyen. Sie wurde von einer libyschen MiG 23 eskortiert. Auf der Strecke muß dann die die libysche C 130 in die Nähe der DC 9 gekommen sein, die auf ihrem Flug von Bologna nach Palermo war. Richter Priore geht davon aus, daß die libysche C 130 dabei aus bisher nicht erklärten Gründen den DC-9-Flug als eine Art Radarmantel genutzt hat. Das heißt, daß die C 130 sich so nahe über oder hinter der DC 9 positioniert hat, daß ihr Radarecho sich mit dem Signal des Passagierflugzeuges vermischte.

Zur Untermauerung dieser Theorie führt Richter Priore die Aussagen eines amerikanischen Experten ins Feld. John Transue, ein Zivilangestellter des Pentagon, bestätigte, daß Signale, die von einer NATO-Radarstation bei der Küstenstadt Masala die Anwesenheit von mindestens einem Flugzeug angezeigt haben, das nahe bei der DC 9 fliegt. Die Aufzeichnungen zweier weiterer Radarstationen zeigen die Signatur von drei Flugzeugen, die ineinander verschwammen, als sie über die Toskana flogen. Kurz vor dem Absturz beschleunigte ein neben der DC 9 fliegendes nicht identifiziertes Flugzeug und machte ein Flugmanöver, das auf den Aufzeichnungen wie ein Angriff aussieht, wahrscheinlich, um eine Rakete abzufeuern. Unmittelbar danach verschwindet die DC 9 vom Bildschirm und stürzt ins Meer; soweit die Aussagen des US-Experten. Die MiG 23 stürzte in den kalabrischen Bergen ab, nur wenige Flugminuten vom Absturzort der DC 9 entfernt. Ein CIA-Mitarbeiter, der seinerzeit den Absturzort der MiG begutachtet hatte, sagte zu Richter Priore, daß der Pilot versucht hätte, sich in den Westen abzusetzen, der Sprit dafür aber nicht ausgereicht hat. Richter Priore betont dagegen, daß er amerikanische Fotos habe, die Einschußlöcher am Leitwerk der besagten MiG 23 zeigten.

In der Tat verdichten sich nun die Indizien, daß die Abstürze der libyschen MiG und der italienische DC 9 ursächlich zusammenhängen und daß beide Maschinen abgeschossen wurden. Und Richter Priore hat sicherlich nicht Unrecht, wenn er davon ausgeht, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit amerikanische Jagdflugzeuge geschossen haben. Das »Warum« wird damit aber immer noch nicht erklärt. Früher war es nicht ungewöhnlich, und wahrscheinlich wird es auch heute noch praktiziert, daß bei Luftmanövern die Jägerpiloten das Abfangen von feindlichen Flugzeugen an zivilen Passagierflugzeugen üben. Der Erklärungsversuch, daß dies auch im vorliegenden Fall geschah und dabei irrtümlich eine scharfe Rakete auf die DC9 abgefeuert wurde, befriedigt jedoch nicht. Damit läßt sich der zeitgleiche Abschuß der MiG nicht erklären. Auch nicht, warum eine MiG überhaupt dort war.

Anschlag auf Ghaddafi

Die ganze Geschichte beginnt erst dann Sinn zu machen, wenn – wovon Richter Priore ebenfalls ausgeht – an jenem fatalen Tag tatsächlich eine libysche Transportmaschine in der unmittelbaren Nähe der DC 9 unterwegs war. Nach einigen Berichten habe es sich dabei jedoch nicht um eine Frachtmaschine, sondern ebenfalls um ein Passagierflugzeug gehandelt, das den libyschen Staatschef und Revolutionsführer Ghaddafi von einem privaten Besuch in Europa nach Hause brachte. Sobald sein Flugzeug über dem Mittelmeer in internationalen Luftraum kam, wurde es von einer MiG 23 zwecks Begleitschutzes empfangen. Nach dieser Theorie ist es auch verständlich, daß der Pilot versuchte, im Radarschatten der italienischen DC 9 zu fliegen, zumal er vielleicht von den NATO-Luftmanövern gehört hatte, die angeblich etwas weiter westlich abgehalten wurden.

Für die amerikanische Führung, deren Air Force an dem Luftmanöver in der Region beteiligt war, wäre dies eine günstige Gelegenheit gewesen, um ihren langjährigen Intimfeind Ghaddafi loszuwerden. Wahrscheinlich eine zu verlockende Aussicht. Diese Version würde sowohl die Anwesenheit als auch den Abschuß der begleitenden MiG 23 erklären. In der Hitze des Gefechts wurde dann aber ein fataler Fehler begangen. Statt des libyschen Passagierflugzeuges, das im Radarschatten der DC 9 flog, wurde die italienische Passagiermaschine abgeschossen.