Sticht Jelzins letzte Trumpfkarte?
von Rainer Rupp
erschienen am 12.08.1999 in der Jungen Welt
Putin gilt als Schild und Schwert der Räuberbarone. Gegenallianz formiert sich
Um seine zunehmende politische Schwäche zu überspielen, ist Jelzin in letzter Zeit vermehrt dazu übergegangen, zur Bewältigung von spezifischen politischen Situationen die jeweils besonderen Fähigkeiten einer Reihe von Premierministern auszunutzen. Sobald sie jedoch ihre von Jelzin zugedachte Aufgabe gelöst hatten, wurden sie umgehend gefeuert. Und der nächste »Mohr« wurde erhöht, um seine Schuldigkeit zu tun, mit bekanntem Ende. Aus der Sicht Jelzins verhält es sich mit der Ernennung Putins nicht anders. Dieses Mal jedoch könnte Jelzins Strategie fehlschlagen. Es könnte sich herausstellen, daß die Kräfte, die hinter dem überzeugten Marktwirtschaftler Putin stehen, an Jelzin und seiner »Familie« vorbei eine gefährliche Verbindung mit dem ebenfalls zumindest teilweise hinter Putin stehenden Sicherheitsdienst eingehen. Wenn man diversen Gerüchten aus Moskau glaubt, dann geht es Jelzin ohnehin nur noch darum, für die Zeit nach seiner Präsidentschaft für sich und seine »Familie« Sicherheiten zu bekommen: für die Familie Straffreiheit wegen der vielen Korruptionsvorwürfe und für sich eine sichere Rente.
Die russischen Finanzoligarchen bilden keinen einheitlichen Block. Beim Streit um die Beute, sprich Privatisierung des Staatseigentums, wurde und wird immer noch mit harten Bandagen gekämpft. Aber wenn es darum ging, die weitere Ausbeutung von Land und Leuten politisch abzusichern, dann hatte das übergeordnete Interesse des Moskauer Geldadels stets gesiegt. Allerdings haben die Oligarchen noch keinen geeigneten Kandidaten für Jelzins Nachfolge gefunden, geschweige denn sich auf einen einigen können.
Die Präsidentschaftswahl soll im Juli nächsten Jahres stattfinden. Der ideale Präsidentschaftskandidat für die Oligarchen müßte sowohl populär sein und Chancen auf den Sieg haben als auch den Räuberbaronen die Fortführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Verbindung mit einer USA/NATO- freundlichen Außenpolitik garantieren. Weil obskur und weitgehend unbekannt, erfüllt Putin nur einen Teil dieser Voraussetzungen. Trotzdem dürfte die russische Kleptokratie vorerst mit Jelzins Kandidaten zufrieden sein, zumal der durch Rückgriff auf seine geheimdienstlichen Ressourcen mit Hilfe von »Kompromat« (kompromittierendem Material) die Wahl zur Duma Ende dieses Jahres nachhaltig beeinflussen kann. Es deutet also alles darauf hin, daß Jelzin mit der Nominierung des Chefs des FSB – einer Nachfolgeorganisation des KGB – zum neuen Ministerpräsidenten »die kaum versteckte Absicht verbindet, die bevorstehenden Wahlen für die Duma zu manipulieren« (Stratfor Intelligence, 10. 8.).
Die Schlacht um Einflußzonen und Geldquellen droht das ganze Land in die Katastrophe zu stürzen.
Die Parallelen zum Jahr 1991, als die Machtkämpfe und Intrigen im Kreml zum Zerfall der Sowjetunion führten, sind bedenklich«, konnte man im »Spiegel-Online« am 9. 8. lesen. Einige befürchteten sogar, daß die Weichen für den Ausnahmezustand gestellt würden, mit dessen Hilfe die Präsidentschaftswahl verschoben werden könnte.
Zwar gab es Kurseinbrüche von Rubel und Aktien in Moskau, aber nach einer kurzen Überraschungsphase vereinten sich seine internationalen Unterstützer hinter dem russischen Präsidenten. Vorneweg das Weiße Haus in Washington, einige westeuropäische Nationen, die Ukraine und – besonders wichtig – der Internationale Währungsfonds (IWF). Putin hat sich deshalb auch beeilt zu erklären, daß seine Regierung nicht an die von seinem Vorgänger übernommene, mit dem IWF abgestimmte Wirtschaftspolitik rühren würde. Große amerikanische Zeitungen hoben flugs die von der Nachrichtenagentur Reuters verbreitete kapitalberuhigende Meldung hervor, daß Wladimir Putin bereits Anfang der 90er Jahre in St. Petersburg bei dem dortigen neoliberalen Bürgermeister Anatoli Sobtschak in die marktwirtschaftliche Lehre gegangen sei. Mehr noch: Anatoli Tschubais, der mit Korruptionsvorwürfen belastete ehemalige Architekt der russischen »Wirtschaftsreform« und der undurchsichtigen Privatisierung des Staatseigentums, gilt als enger Freund und Weggefährte Putins.
Jelzins Gegner im Inland waren über die Entlassung Stepaschins nach nur dreimonatiger Amtszeit als Premierminister kaum überrascht. In ihren Bewertungen sparten sie jedoch nicht mit beißender Kritik. KP-Chef Sjuganow sagte: »Das ist hundertprozentiger Wahnsinn.(…) Wir haben von Anfang an gesagt, daß diese Regierung (Stepaschin) nicht bis September halten würde.« Der Sicherheitschef der Duma, Viktor Iljuchin (LPRF), erklärte, daß er nicht an die besonderen Qualitäten Putins zur Staatsführung glaubt. Die »regierende Familie« um Jelzin habe Stepaschin fallengelassen, weil schon nach recht kurzer Zeit deutlich geworden war, daß der kein zuverlässiger Verfechter ihrer Interessen sein würde und ihren Machterhalt und Schutz nicht garantieren konnte oder wollte. Was Stepaschin wahrscheinlich den Hals brach, berichtete Celestine Bohlen vergangenen Dienstag für die »New York Times« aus Moskau. Demnach habe sich Stepaschin, der vor seiner Ernennung zum Premier das Amt des Innenministers bekleidet hatte, aus den politischen Querelen des inneren Jelzin- Zirkels herausgehalten. Zum harten Kern der »regierenden Familie« gehören Jelzins jüngste Tochter Tatjana und sein Stabschef Alexander Woloschin. »Beide hatten in den letzten Monaten mit jenen Medien einen Streit vom Zaun gebrochen, die bei den bevorstehenden Wahlen auf den populären Moskauer Bürgermeister Lushkow setzten. Vergangenen Freitag hatte sich Stepaschin in einem Interview mit der »Iswestija« verpflichtet, in den bevorstehenden Wahlschlachten eine neutrale Rolle zu spielen. Das war womöglich nicht die Botschaft, die der Kreml hören wollte«, schrieb die »New York Times«. Zwei Tage später war Stepaschin gefeuert.
Nichts spricht dagegen für die Version, daß Stepaschin wegen des aufgeflammten Konflikts in der Grenzregion zwischen Tschetschenien und Dagestan entlassen wurde (Foto: Freiwillige melden sich zum Kampf gegen die Dagestan-Sezessionisten). Als Innenminister sei er seinerzeit maßgeblich für die Eskalation des Konfliktes und die Bombardierung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny verantwortlich gewesen, heißt es. Eine Wiederholung in Dagestan habe der Kreml mit der Absetzung vermeiden wollen. Wladimir Putin bekräftigte sofort nach seiner Ernennung, daß unter seiner Regierung alle von Stepaschin unterzeichneten, den Nordkaukasus betreffenden Entscheidungen und Instruktionen auch durchgeführt würden.
Die Duma-Wahl am 19. Dezember hat für die Abgeordneten absolute Priorität. Niemand will deshalb riskieren, daß bei einer dreimaligen Ablehnung Putins Jelzin womöglich noch das Parlament auflöst und durch erzwungene vorzeitige Wahlen Chaos stiftet. Nach dem ehemaligen Premier Primakow sind KP-Chef Sjuganow und Moskaus Bürgermeister Lushkow zur Zeit die beliebtesten Politiker in Rußland. Lushkow versucht seit vergangener Woche, den parteilosen Primakow im Rahmen eines einflußreichen Wahlbündnisses der Blöcke »Vaterland« und »Ganz Rußland« auf seine Seite zu ziehen. Geheimdienstler Putin wird sich was einfallen lassen müssen, um in den Augen seiner Herren gegen diese populären Politiker zu bestehen.