Umdenken in letzter Minute?

Umdenken in letzter Minute?

von Rainer Rupp

erschienen am 23.11.1998 in der Jungen Welt

Die US-Strategie gegenüber dem Irak steckt in einer Sackgasse

Mit dem im allerletzten Moment von Präsident Clinton abgeblasenen Bombenangriff auf den Irak Mitte November scheinen die Falken in Washington ganz andere Zwecke verfolgt zu haben als offiziell propagiert. Es ging weniger darum, Iraks bedingungslose Kooperation mit der UN- Rüstungskontrollkommission (UNSCOM) erneut zu erzwingen.

Vielmehr scheinen die in den letzten Tagen bekannt gewordenen Details die Meldung zweier führender amerikanischer Tageszeitungen vom 12. November zu bestätigen, wonach eine neue Strategie umgesetzt werden sollte, von der man sich doch noch den Sturz Saddam Husseins erhoffte. Dafür nahm man auch den Tod vieler Tausender unschuldiger Bombenopfer billigend in Kauf. Die Bereitschaft der selbsternannten Kämpfer für die Menschenrechte in Washington, immer rücksichtsloser vorzugehen, zeigt im Grunde genommen jedoch nichts anderes, als daß sie in ihrer Irak-Politik mit ihrem Latein am Ende sind.

Widerstand wächst

Das auch öffentlich deklarierte Ziel der US-Amerikaner ist es, Saddam und sein Regime zu eliminieren und durch ein amerikafreundliches zu ersetzen, wobei aus geostrategischen Gründen der Irak innerhalb seiner alten Grenzen erhalten bleiben soll. Die bisherige US-Strategie hat jedoch statt zu diesem Ziel in eine Sackgasse geführt. Verdeckte Operationen der CIA endeten in peinlichen Blamagen für die Amerikaner und hatten meist tödliche Folgen für die einheimischen Beteiligten. Kleinere Putschversuche in der irakischen Armee wurden meist frühzeitig entdeckt und von Saddams Geheimdienst brutal zerschlagen. Der irakische Sicherheitsdienst hat sich bisher in allen Lagen als überaus effizient und als verläßliche Stütze des Regimes erwiesen.

Auch auf der zweiten Schiene hat die bisherige Strategie die Amerikaner nicht weiter gebracht. Entgegen den Hoffnungen Washingtons hat die durch das nun siebenjährige Embargo verursachte Notlage im Irak nicht einmal ein einziges Anzeichen für eine breit angelegte Revolte der Bevölkerung gegen Saddam produziert. Das Gegenteil scheint vielmehr der Fall. Folglich stellte man sich auch in Washington vermehrt die Frage, ob das uneingeschränkte Beharren der USA auf der Einhaltung des Embargos nicht kontraproduktiv war. Und wenn ja, dann müßte auch die weitere Funktion der UNSCOM überdacht werden.

Die Arbeit der UNSCOM ist längst erledigt. Alle für die ABC-Waffenproduktion relevanten Fabriken und Anlagen wurden bereits vor Jahren in die Luft gesprengt. Trotzdem bestanden die USA gegenüber dem Irak auf immer neuen, schwieriger zu erfüllenden und noch demütigenderen Nachweisen, daß tatsächlich auch alle Bestände und Produktionsstätten vernichtet wurden. So konnte der UN- Sicherheitsrat dazu instrumentalisiert werden, den Irak auch weiterhin im Würgegriff des Embargos zu halten.

Allerdings ist der internationale Widerstand gegen diese Politik Washingtons in den letzten Jahren gewachsen, nicht zuletzt wegen unterschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Interessen. Und wegen der erschreckenden humanitären Auswirkungen des Embargos wuchsen auch die politischen Kosten der USA, besonders im arabischen Raum. So sterben im Irak jährlich viele tausend Kinder an fehlender Nahrung und Medikamenten.

Die Aufrechterhaltung eines zeitlich unbegrenzten Embargos trotz weitestgehender Erfüllung der Abrüstung durch den Irak wurde für die USA immer schwieriger zu rechtfertigen, zumal sie recht unverhohlen den Sturz Saddams als Bedingung für die Aufhebung des Embargos nannten. Dadurch wurde die Manipulation des UN-Sicherheitsrates und die Zweckentfremdung des Embargos erst recht sichtbar.

Nachdem die vorletzte Irak-Krise Anfang 1998 beigelegt war, sahen sich denn auch die USA unter erheblichem politischen Druck. In der UNO stimmten sie einer Prozedur zu, die über die bisherige Erfüllung der Abrüstungsauflagen durch den Irak hinaus eine umfassende Bestandsaufnahme erstellen und die je nach Ergebnis mit einer schrittweisen Lockerung des Embargos verbunden werden sollte. In der Zwischenzeit hat sich jedoch auf diesem Gebiet nichts getan. Wenn der Irak mit seinem jüngsten Aufbegehren an dieses Versprechen erinnern wollte, dann hatte er Erfolg, denn vor wenigen Tagen forderte der französische Außenminister, daß mit der Bestandsaufnahme endlich begonnen werden müßte.

Überprüfer oder Spion?

Spätestens im Sommer dieses Jahres, als US- Regierungsbeamte begannen, die weiteren Erfolgsaussichten von UNSCOM offen in Frage zu stellen, dürfte sich in Washington die Einsicht durchgesetzt haben, daß die bisherige Strategie zur Eliminierung Saddams sich als untauglich erwiesen hatte. Selbst das vor einigen Monaten vom US-Kongreß verabschiedete Gesetz, das für verdeckte Aktionen zum Sturz Saddams fast 100 Millionen Dollar zur Verfügung stellte, wurde von der Clinton-Regierung nur noch mit einem müden Lächeln zur Kenntnis genommen. Die amerikanische Irak-Politik befand sich in einer Sackgasse.

Eine neue Strategie mußte her. Die wurde von dem ehemaligen amerikanischen UNSCOM-Kontrolleur Scott Ritter propagiert, die dann auch offiziell übernommen wurde. Der ehemalige Marine- und Golf-Krieg-Veteran Ritter hatte vor zwei Monaten aus Protest gegen die angeblich zu lasche Behandlung Saddams durch Washington seinen Posten bei der UNSCOM quittiert. Zugleich gestand er ein, geheimes UNSCOM-Material über den Irak an den israelischen Geheimdienst weitergegeben zu haben, was die alten Vorwürfe des Iraks, UNSCOM-Mitarbeiter würden auch Spionage betreiben, bestätigte. Scott Ritter wurde am 12. November von der »International Herald Tribune« (IHT) zitiert, wonach der »methodologische Durchbruch« im Rahmen einer neuen Strategie zur Eliminierung Saddams gar nicht von ihm, sondern vom israelischen Geheimdienst stammt.

Die neue Strategie, so übereinstimmend »Washington Post« und »International Herald Tribune«, sah vor, die Stützen von Saddams Macht durch eine gezielte, massive und über viele Tage andauernde Bombardierung zu zerschlagen. (Die erneute Unterwerfung des Iraks unter die UNSCOM-Regeln sollte nur den offiziellen Vorwand zum Angriff liefern.) Als Stützen von Saddams Macht wurden zwei Zielgruppen identifiziert. Erstens alle wissenschaftlich-technischen Einrichtungen und Industrieanlagen. Sie alle sollten in die Luft gejagt werden. Offiziell sollte dies mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, daß dadurch auch in Zukunft die Herstellung von ABC-Waffen im Irak verhindert werden würde.

Tatsächlich aber erhoffte man sich von dieser Politik der verbrannten Erde, das zu erreichen, was das Embargo nicht geschafft hatte: eine allgemeine Revolte gegen das Saddam-Regime. Um dieser die Möglichkeit des Erfolgs einzuräumen, mußte jedoch zugleich das Haupthindernis und die wichtigste Stütze von Saddams Macht, sein Geheimdienstapparat, zerschlagen werden. »Dessen Schwächung könnte helfen, den Weg frei zu machen für einen Staatsstreich der Armee gegen Saddad«, schrieb Joseph Fitchett in der »International Herald Tribune«.

»Nebenschaden«

Angeblich standen alle bekannten Installationen von Saddams Geheimdienst auf der Zielliste; von Büros über Fahrzeugparks bis hin zu Freizeitclubs. Durch Vernichtung von Computern und Karteien, durch Zerstörung von Kommunikationslinien und Tötung von Funktionsträgern sollte das Funktionieren des Apparates nachhaltig gestört werden.

Cruise Missiles und Jagdbomber sind für die im Rahmen der neuen Strategie notwendigen Flächenbombardements nur bedingt tauglich. Diese Aufgabe sollten die großen strategischen US-Bomber vom Typ B-52 und B-1 erledigen, die – wie sich herausstellte – bereits ihren Einsatzbefehl hatten, als Präsident Clinton den Angriff buchstäblich in letzter Sekunde abblies.

Strategische Bomber sind ungenau. Der »Nebenschaden« – militärischer Jargon für zivile Tote – ist bei ihrem Einsatz noch schlechter zu kontrollieren als sonst. Wie nun bekannt wurde, rechneten die Experten im Pentagon im wahrscheinlichsten Fall mit 10 000 Toten. Entsprechend erhöhte sich auch das politische Risiko eines weltweiten Rückschlags gegen die Politik der USA. Dazu schrieb Jim Hoagland am 12. 11. in der Washington Post: »Keine Operation, die wie diese notgedrungen eine große Zahl von zivilen Bombenopfern zur Folge hat, kann als großer Erfolg deklariert werden. Allerhöchstens als Notwendigkeit. Dafür müßte aber die US- Regierung ein erreichbares strategisches Ziel vorlegen können, das die Gewaltanwendung rechtfertigen würde: Der Sturz Saddams. … Nur der kann den Krieg der einzigen Supermacht gegen ein armes und kaputtes Land rechtfertigen.« Wenn diese zynische machtpolitische Überlegung auch zurückzuweisen ist, so zeigt sie doch das Dilemma der neuen amerikanischen Strategie.

Das Schlimmste, was der amerikanischen Außenpolitik hätte passieren können, wäre gewesen, wenn ihr völkerrechtswidriger und außerhalb jeglicher Verhältnismäßigkeit stehender Angriffskrieg gegen den Irak viele zivile Opfer gefordert hätte, Saddam aber trotzdem an der Macht geblieben wäre. Zum Glück schien Präsident Clinton dieses Risiko dann doch zu hoch, zumal klar geworden war, daß der Irak bezüglich der UNSCOM- Kontrollen bereits eingelenkt hatte. Gegen den vereinten Widerstand seiner Außenministerin, seines Verteidigungsministers und des Stabschefs der US- Streitkräfte, die trotzdem bombardieren wollten, folgte Clinton dem einsamen Rat seines Sicherheitsberaters im Weißen Haus und stoppte die bereits angelaufene Vernichtungsmaschine – sehr zum Leidwesen vieler mordlustig geifernder Medienkommentatoren, die morgen schon wieder mit Inbrunst die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo beklagen, wenn dort ein UCK-Terrorist bei seinem Angriff auf die Serben erschossen wird.

Rosa-grün: Kein Widerstand