Virtuelle Massengräber

Virtuelle Massengräber

von Rainer Rupp

erschienen am 06.07.1999 in der Jungen Welt

Wie gehabt: Greuelpropaganda als nachgelieferte Kriegsrechtfertigung

Von Anfang an war zu erwarten, daß nach dem Ende des Kosovo- Krieges die NATO neue Anstrengungen in Public Relations unternehmen würde, um ihre verbrecherischen Luftangriffe zu rechtfertigen. Immerhin hatten Zigtausende von NATO-Bomben fast 2000 jugoslawische Zivilisten getötet und die Lebensgrundlage eines ganzen Volkes zerstört. So etwas ist mit angeblicher Nothilfe dem Wähler nicht so einfach zu erklären.

Für die Rechtfertigung der NATO ist es ausgesprochen wichtig, daß die Jugoslawen, besonders aber die Serben, ausgesprochene Monster sind. Dies war ja schon während des Krieges der Grundtenor der politischen Führung der NATO gewesen. Wobei man sich noch auf die serbische Führung und Streitkräfte beschränkte. Gegen das serbische Volk (das zwar durch die Bomben terrorisiert wurde) führte man schließlich keinen Krieg. Der NATO-Angriffskrieg wurde während seines Ablaufes immer wieder mit neuen und anderen Argumenten gerechtfertigt. Zuletzt waren es die Bilder vom Flüchtlingselend der Kosovo-Albaner, das ausschließlich durch eine angeblich systematische Vertreibung durch die Serben und nicht durch Angst vor Krieg, NATO-Bomben, Versorgungsnotstand und dem UCK-Terror gegen »Abtrünnige und Verräter« hervorgerufen wurde. Zugleich wurde im Kosovo ein Holocaust mit Massaker und Massengräbern beschworen, den es zu stoppen galt. Nun aber, wo die NATO im Kosovo militärisch präsent ist, gerät sie in ein Argumentationsdilemma. Praktisch unter dem Schutz der NATO findet die ethnische Säuberung des Kosovo von Serben durch die UCK statt. Das will sie zwar nicht, da sie sich aber auf Gedeih und Verderb mit den nationalistischen Terroristen der UCK eingelassen hat, ist der Spielraum der NATO-Militärs im Kosovo gering. Also muß die Vertreibung der Serben aus dem Kosovo, die Öffentlichkeit der NATO-Länder so umgesponnen werden, daß sie akzeptabel wird und nicht am Lack des großen humanitären NATO-Krieges kratzt. Das Rezept dafür ist bereits gefunden: Nicht nur die serbische Führung und das Militär, sondern alle Serben sind Schuld. Diese Vorgabe wird willig von den Medien aufgegriffen. Artikel mit diesem Tenor mehren sich. Ein typisches Beispiel findet sich am 30. Juni in der Washington Post: »Die Serben sind mit Schuld an den Handlungen ihrer Führer« titelte der bekannte Kommentator Jim Hoagland. Was wir alle schon lange vermutet haben, wird hier nun bestätigt. Das ganze serbische Volk ist böse. Wahrscheinlich liegt es in den serbischen Genen. »Die Serben, die jetzt aus der Provinz (Kosovo) fliehen, sind nicht die Opfer einer umgedrehten ethnischen Säuberung oder der Auferlegung einer Kollektivschuld. Sie sind vielmehr die Opfer ihrer eigenen Unterstützung für Milosevics Krieg«, schreibt Hoagland.

»Die Serben dürfen nicht weiterhin den von ihnen angerichteten Schrecken im Kosovo ignorieren«. Deshalb empfiehlt Hoagland, ihnen eine »moralische und psychologische« Lektion zu erteilen: »Die NATO und die UNO, die nun gemeinsam das Kosovo als internationales Protektorat leiten, dürfen den Serben nicht dabei helfen, den Folgen der Taten zu entkommen, die sie ihren Führern erlaubt haben, in ihrem Namen zu begehen.« Selbst die alliierten Sieger über Nazi-Deutschland waren nach dem Krieg gegenüber dem deutschen Volk großmütiger als die Menschenrechtsapostel der neuen NATO-Doktrin.

Spätestens seit der letzten Jahrhundertwende hat die Sichtweise in Deutschland Tradition, daß die Serben besonders schlimme Zeitgenossen sind. Auch für die neuen militärischen »Humanisten« in der Bonner rosa-grünen Regierung war das von Anfang an klar. Besonders schrille Töne kamen von Scharping und Fischer: Milosevic gleich Hitler und Kosovo gleich Auschwitz. Und da die sogenannte 68er-Generation mal geschworen hatte: »Nie wieder Auschwitz«, tappten auch die moralin-grünen, selbsternannten Gutmenschen voll »innerer Zerrissenheit« in die Falle der Expansions- und Agressionspolitik des Neuen Strategischen Konzeptes der NATO. Folglich ist es heute für Fischer und Konsorten ganz normal, daß auch deutsche Soldaten ganz unverkrampft wieder gegen andere Länder Krieg führen dürfen.

Knochen für die Meute

Für die NATO ist es jetzt an der Zeit, die angeblichen Greueltaten der Serben im Kosovo zu beweisen. Nur so können weiterhin die eigenen Kriegsverbrechen, wie die NATO-Massenmorde an Zivilisten, vor der Öffentlichkeit nicht nur relativiert, sondern sogar als humanitäre Tat verkauft werden. Und deshalb müssen die in der Propagandaschlacht während des Krieges so oft bemühten Massengräber im Kosovo endlich her.

Bei der Beweisführung gibt es jedoch Schwierigkeiten. Statt mit Fakten über Massengräbern zu informieren, wird statt dessen wieder geschickt Desinformation betrieben. Und die angeblich so kritische Vierte Macht im Staat, die Medien, spielen mit. Die staatstragenden Medienorgane der NATO-Länder veröffentlichen wortreiche und grauenvolle Berichte über das Blutbad, das die Serben angeblich im Kosovo angerichtet haben. So genau im Detail, als wären sie dabei gewesen. Selbst seriöse Blätter wie die New York Times und Washington Post sind sich dafür nicht zu schade. Dabei diskreditieren und widersprechen sich die Berichte oft in eklatanter Weise selbst, wie am Beispiel eines Artikels aus der Washington Post vom 29. Juni deutlich wird, auf den weiter unten im Detail eingegangen wird.

Schon im Bosnienkrieg hatte man erkannt, welch wichtiges politisches Instrument die Greuelpropaganda sein kann. Als äußerst hilfreich hatte sich das Massaker von Sarajevo erwiesen, bei dem eine Granate auf dem von Menschen wimmelnden Marktplatz explodiert war. Obwohl, wie sich später herausstellte, die Serben sie nicht abgefeuert hatten, wurden sie dafür verantwortlich gemacht. Der Vorfall lieferte den Vorwand für die ersten Luftangriffe der NATO auf serbische Ziele im Bosnien-Krieg. Massaker haben scheinbar einen besonders hohen Wert für die Kriegvorbereitungen der NATO. Der taz-Korrespondent Erich Rathfelder zeichnete sich bei der »Entdeckung« von Massaker der Serben als besonders williger Helfer aus. Schon vor dem Krieg spürte er im Kosovo regelmäßig neue »Massengräber« auf, die dann jedoch einer Untersuchung nicht Stand hielten. Der Effekt war trotzdem erreicht. Die Nachricht war bereits durch die Medien gegangen. Systematisch wurde so die Dämonisierung der Serben betrieben.

Der Auftakt: Ein gleichlautender Artikel in der Wiener “Presse”wurde vom Presserat in Österreich scharf gerügt

Rathfelder war auch Miterfinder des Massakers von Srebrenica, der wohl bekanntesten aber immer noch nicht bewiesenen »Untat« der bösen Serben. Die auf Satellitenaufnahmen entdeckten »Massengräber« erwiesen sich als unergiebig. Auch bei dem angeblichen Massaker von Racak stellten sich die Tatsachen nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung einer internationalen Expertengruppe höchst zweideutig dar. Bis heute ist nicht klar. ob es sich bei den Toten um eine Inszenierung mit im Kampf gefallenen UCK-Kämpfer handelte oder nicht. Nach Berichten französischer Journalisten, die am Tag des angeblichen Massakers vor Ort waren, sprechen die Indizien für den Versuch eines UCK- Propaganda-Coups.

Ganz im Vertrauen auf das schlechte Gedächtnis der meisten Menschen macht sich die NATO nicht einmal mehr die Mühe, ihre täglich neuen Geschichten über serbische Greuel im Kosovo aufeinander abzustimmen. Während des Krieges wurde die aus der Luft gegriffene Behauptung bis zur Ermüdung wiederholt, zwischen 100000 und 225000 Kosovo-albanische Männer seien vermißt und wahrscheinlich ermordet worden. Jetzt spricht das britische Außenministerium nur noch von etwa 10000 Kosovo- Albanern, die in etwa 130 Massakern ermordet worden seien. Dazu erklärte der für Kriegsverbrechen zuständige Sprecher der britischen Regierung David Gowan: »Es ist sehr schwierig, eine Gesamtzahl zu nennen, aber klar ist, daß sich ein wesentlich schlimmeres Bild ergibt, als wir es erwartet hatten«. Nach dieser Logik wären zehntausend angeblich Ermordete schlimmer als Hunderttausend. Oder verrät David Gowan hier unbewußt, daß das Außenministerium von Anfang von einer viel geringeren Zahl von tatsächlichen Opfern ausgegangen war.

Aber auch die Zahlen von angeblich 10000 Ermordeten und 130 Massakern, die immer noch ein Bild von »Auschwitz« vermitteln sollen, scheinen rein aus der Luft gegriffen. Diese Darstellung der britischen Regierung, die von der NATO übernommen wurde und als »Fakt« um die Welt ging, wurde nicht auf Grundlage einer Inspektion des Kosovo vor Ort gemacht. Vielmehr war sie bereits vor dem Einmarsch der NATO-Truppen ins Kosovo fertig. Wie die Briten selbst eingestanden, basieren diese Schätzung auf »Militär- und Medienberichten sowie Interviews mit Flüchtlingen in Albanien und Mazedonien«. Diese Auflistung basiert also nicht auf tatsächlich gefundenen Gräbern oder Leichen, sondern auf Vermutungen, Hörensagen, Mitleid heischenden Erzählungen der Flüchtlinge und UCK-Desinformationen.

Geschickte Andeutungen

Die Kunst der »spin doctors« der Public Relations Abteilungen der NATO-Regierungen besteht darin, Ereignisse so umzudichten bzw. umzuspinnen, daß sie ins große strategische Konzept passen. Diesmal besteht ihre makabre Aufgabe darin, die während des Krieges viel bemühten Massengräber und Leichen von Kosovo- Albanern zu produzieren. Sonst kommt womöglich noch jemand auf die Idee, daß die NATO-Bomben mehr serbische Zivilisten ermordet haben als tote Kosovo-Albaner gefunden wurden. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß im Kosovo nach Beginn der NATO-Bombardierung nicht auch Massaker an Kosovo- Albanern stattgefunden haben. Jeder Krieg ist unmenschlich und unmenschliche Reaktionen von Menschen sind in solchen Situationen fester Bestandteil eines jeden Krieges. Wie die amerikanische Regierung aus eigener Erfahrung weiß, können auch nette amerikanische Boys ganz unvermittelt Massaker verüben – wie z.B. Leutnant Kelly, der mit seinem Zug in Vietnam die über 400 Einwohner des Dorfes My Lai erschoß, vom Baby bis zum Greis. Grund für diese Bluttat: In der Nähe des Dorfes hatte der Zug des Leutnant Kelly einen guten Kameraden in einer Falle verloren. Lt. Kelly wurde übrigens als einziger verurteilt. Er bekam gerade mal zwei Jahre Haft, von denen er nur wenig absaß. Auch im Kosovo ist es durchaus möglich, daß es während des Krieges zu unkontrollierten Ausschreitungen und Massakern gekommen ist. Für die von der NATO aufgestellte Behauptung, es sei zu systematischen, von der Regierung in Belgrad angeordneten oder zumindest geduldeten Massakern gekommen, fehlt jedoch jeder Beweis. Auf dieser Behauptung fußt jedoch die Rechtfertigung der NATO für ihren Angriffskrieg.

Das konkrete Problem der NATO besteht nun darin, daß sie noch keine Massengräber gefunden hat, die von Massakern herrühren. Folglich müssen die Massengräber von den »spin doctors« mit geschickten Andeutungen und Unterstellungen und unter tatkräftiger Mithilfe der Medien im Kopf der Bürger der NATO-Länder virtuell erzeugt werden. Das geht z.B. so: Der Pentagonsprecher Mike Doubleday sagte kürzlich, daß NATO- Soldaten »seit ihrem Einmarsch ins Kosovo auf 90 Stätten gestoßen« sind, »an denen Massengräber vermutet werden« oder sie hätten von solchen gehört. Was sich den in Desinformationstechniken unerfahrenen Bürger wie ein bedeutender Beweis für den Tod einiger tausend Menschen darstellt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als Gerücht und Spekulation.

Auf Satellitenphotos entdeckte Plätze im Kosovo mit umgewühlter Erde werden von der NATO sofort als vermutetes Massengrab registriert. Dort, wo die NATO aber in der Zwischenzeit tatsächlich angefangen hat, die angeblichen Massengräber zu öffnen, fehlten die Leichen. Vielleicht ein Irrtum? Doch kein Massengrab? Nein! Solch eine Erklärung würde die ganze »moralische Legitimation« der NATO für ihre Mordbrennerei gegen Jugoslawien in Frage stellen. Was wird also als Erklärung dafür geboten, daß unter der umgewühlten Erde keine Toten liegen?

»Die Serben scheinen zuerst hier gewesen zu sein. Sie haben das Grab wieder geöffnet und die Leichen irgendwohin geschafft, scheinbar um mögliche Beweise für ein Kriegsverbrechen aus der Welt zu schaffen.« Das berichtete John Kifner am 29. Juni aus Izbica im Kosovo in der New York Times. Damit ergänzt er ähnliche Berichte in anderen amerikanischen Zeitungen, wonach in anderen »Massengräbern«, also an Stellen mit aufgewühlter Erde, statt Leichen von Kosovo-Albanern nur die Kadaver von Kühen und anderen Tieren gefunden worden wären – wie übrigens auch schon in den Rathfelderschen »Massengräbern« im vergangenen Sommer.

»Die Leichen sind weg«

Auf die Idee, daß diese Tiere vielleicht durch Bomben oder in Kämpfen zwischen UCK und den Sicherheitseinheiten getötet und an Ort und Stelle verscharrt worden sind, um eine Seuchengefahr zu verhindern, auf solch eine abwegige Idee kamen die westlichen Medien natürlich nicht. Statt dessen ist es doch viel naheliegender, sich auf die Befragung von kosovo-albanischen Flüchtlingen zu berufen und zu berichten, daß die Serben die Leichen der Ermordeten wieder ausgegraben und die Gräber mit toten Tieren gefüllt hätten, um die Kosovo-Albaner noch über ihren Tod hinaus zu desakrieren. Solche Stories mutet man allen Ernstes der erwachsenen Bevölkerung der NATO-Länder zu. Und zu allem Überfluß werden sie geglaubt.

Zurück zu Izbica, dem kleinen Ort im Kosovo mit dem leeren Massengrab und John Kifner, der bekifft gewesen sein muß, als er seinen Bericht an die New York Times faxte. »Die Leichen sind weg«, zitiert Kifner einen Herrn Yves Roy, seines Zeichens ein Mitglied von acht Teams, die im Kosovo Kriegsverbrechen untersuchen sollen. »Aber es gibt noch genügend Beweise«, fährt Kifner fort und, um die Beweise zu erbringen, verweist er auf das Satellitenfoto vom Massaker von Izbica, einer Hochburg der UCK, die stark umkämpft war. Das Foto »zeigt sauber angelegte Reihen von Gräbern, alle in Richtung Mekka ausgerichtet, wie es die muslimische Tradition verlangt.« (Also doch kein Massengrab. Und welches religiöse Feingefühl die Serben mit der Ausrichtung der Gräber in Richtung Mekka doch bewiesen haben.) Und Kifner führt noch einen Beweis an: das ominöse Video, das angeblich ein Kosovo-Albaner in dem verlorenen Bergnest Izbica von der Beerdigung der angeblich Ermordeten gedreht hat. Das Video war vom US-Fernehsender CNN rund um die Welt ausgestrahlt worden. Aber selbst für unseren autistischen Kriegsminister Scharping, der es sonst mit Beweisfotos in Pressekonferenzen nicht besonders genau nahm, war das Video zu heiß. Zu offensichtlich ein getürktes Produkt.