Washingtoner Atomkriegs-Gelüste

Washingtoner Atomkriegs-Gelüste

von Rainer Rupp

erschienen am 09.10.1998 in der Jungen Welt

Jetzt veröffentlichte Dokumente belegen Angriffspläne gegen China

Unter größter Geheimhaltung berieten Anfang des Jahres 1964 die außen- und militärpolitischen Spitzen der Regierung unter Lyndon B. Johnson, wie die USA die Entwicklung von Atomwaffen in China verhindern könnten. Jüngst veröffentlichte, ehemals streng geheime Dokumente des US- Außenministeriums zeigen, daß dieses Problem monatelang ganz oben auf der Liste der Prioritäten im Weißen Haus stand.

Wie Israel 1981 mitten im Frieden die Nuklearanlagen Iraks zerstörte, so wollten die USA die chinesischen Atominstallationen von Lop Nor mit einem »Präventivschlag« vernichten. Bisher war diese Absicht nur gerüchteweise bekannt geworden, und zwar im Zusammenhang mit dem Moskau-Besuch des US-Gesandten Averell Harriman 1963 anläßlich des Atomwaffenteststopp- Abkommens. Auf Geheiß von Präsident John F. Kennedy fühlte Harriman seinerzeit vor, ob Moskau einem US-Schlag stillschweigend zustimmen würde.

In den fünfziger Jahren hatte die Sowjetunion das chinesische Atomwaffenprogramm mit technischer und materieller Hilfe unterstützt. Erst später kamen Bedenken, und ab 1959 zog sich Moskau zurück. 1963 war es bereits zum offenen und unversöhnlichen Bruch zwischen Moskau und Peking gekommen. Trotzdem war der damalige sowjetische Staatschef Chruschtschow für die von Harriman angetragenen amerikanischen Überlegungen »nicht empfänglich«, wie George McBundy, Sicherheitsberater von Kennedy und Johnson, in seinem Buch »Danger and Survival« festhielt.

Wie die jetzt veröffentlichten Dokumente zeigen, gab sich Washington damit nicht zufrieden, sondern begann mit der ernsthaften Planung des Projektes. Die CIA wurde beauftragt, geheime Kommandoaktionen gegen Lop Nor auszuarbeiten. Zugleich wurde von den Chefs des Vereinten US-Generalstabs verlangt, militärische Angriffspläne zu entwerfen, allerdings mit konventionellen Waffen. Rechtzeitig vor Weihnachten, am 14. 12. 1963, legten die Chiefs ihre Antwort vor: Ein konventioneller Bombenangriff auf Lop Nor ist möglich, aber schwierig und ohne Garantie für durchschlagenden Erfolg. Statt dessen empfahlen die Militärs, wenn schon ein solcher Angriff stattfindet, dann sollte er doch besser mit Atombomben durchgeführt werden.

Über die chinesische Reaktion machte man sich scheinbar wenig Sorgen. In einem Memorandum steht zu lesen: »Die Chinesen könnten womöglich den US-Streitkräften in Asien bedeutsame, aber keine lähmenden Schäden zufügen. Dagegen haben die Vereinigten Staaten die Fähigkeit, das kommunistische China zu zerstören.« Es gab aber auch Stimmen, die auf die verheerenden außenpolitischen Folgen eines solchen Angriffs hinwiesen, und darauf, daß langfristig der Aufstieg Chinas zu einer Atommacht nicht zu verhindern sei. Zum Glück setzte sich schließlich die politische Vernunft durch. Als China am 14.10. 1964 seine erste Atombombe testete, war es dann ohnehin zu spät.

Dieser Fall reiht sich ein in eine Kette von anderen militärischen Planungen, bei denen von den höchsten US- Militärs immer wieder der Ersteinsatz von Atomwaffen vorgeschlagen oder gar verlangt wurde, wie z.B. von General Westmoreland in Vietnam, als dieser eine vernichtende Niederlage seiner Truppen bei Khe Sanh verhindern wollte. Und noch heute ist der Ersteinsatz von Atomwaffen Teil der NATO-Strategie.