Wo sind die Todesfelder im Kosovo? – »Weit unter den Erwartungen«

Wo sind die Todesfelder im Kosovo? – »Weit unter den Erwartungen«

von Rainer Rupp

erschienen am 28.10.1999 und 29.10.1999 in der Jungen Welt

Jugoslawien-Krieg ohne Legitimation

– Bericht des privaten US-amerikanischen Nachrichtendienstes Stratfor Intelligence über die nicht auffindbaren Spuren serbischer Massaker im Kosovo (*) –

Schon während des Krieges gegen Jugoslawien hat jW immer wieder die NATO-Greuelpropaganda, die offensichtlich nur dem Zweck diente, die Rechtfertigung für den Angriff (nach)zuliefern, unter die Lupe genommen (»Virtuelle Massengräber«, junge Welt vom 6. Juli 1999). Die Behauptungen über die angebliche systematische und massenhafte Ermordung Kosovo- albanischer Zivilisten durch jugoslawische Sicherheitskräfte wurden von »Massengräber- Journalisten« in den großen Medien begierig aufgegriffen und weiterverbreitet. Diese Propaganda war die Voraussetzung, um den völkerrechtswidrigen NATO- Krieg gegen Jugoslawien zu legitimieren

Nun, vier Monate später, bestätigt ausgerechnet Stratfor Intelligence, ein privater amerikanischer Nachrichtendienst für Großunternehmen, die in junge Welt gemachten Aussagen. In einer kritischen Analyse stellt Stratfor Intelligence die NATO-Behauptungen vom zehntausendfachen Massenmord und serbischen Genozid im Kosovo in Frage und vergleicht sie u. a. mit der Zahl der im Kosovo tatsächlich gefundenen Leichen. Trotz intensiver Suche sind bisher nur einige hundert gefunden worden – und das in einem Landesteil, in dem durch den fast drei Monate andauernden Bombenterror jegliche staatliche Ordnung zusammmengebrochen war, und obwohl es vor und während des Krieges zu Kämpfen zwischen der serbischen Polizei und der terroristischen UCK gekommen ist. (AP-Foto: Ein Traktor-Konvoi nach einem NATO-Angriff mit Cluster-Bomben am 14. Mai 1999 bei Prizren)

Unüberhörbar liest man zwischen den Zeilen Irritation über die – im Verhältnis zur damaligen Kriegspropaganda – wenigen Leichenfunde. Trotzdem (oder gerade deshalb) ist die nachfolgend dokumentierte Analyse lesenswert.

Am 11. Oktober 1999 berichtete das Internationale Tribunal für Kriegsverbrechen in der ehemaligen Republik von Jugoslawien (ICTY), daß in den Grubenanlagen von Trepca im Kosovo, wo angeblich die Leichen von 700 ermordeten Kosovo-Albanern versteckt worden sind, kein einziger Toter gefunden worden ist. Drei Tage später veröffentlichte das US- Verteidigungministerium seine rückblickende Analyse des Kosovo-Konfliktes, in der es behauptete, daß der NATO-Krieg eine Reaktion auf die ethnischen Säuberungen von Präsident Slobodan Milosevic gewesen sei. Diese Aktionen seien ein »brutales Mittel gewesen, um die Krise auf seine (Milosevics – Anm. R. R.) Art zu beenden, indem er die ethnischen Albaner entweder vertrieb oder umbrachte, indem er die Infrastruktur der angrenzenden Staaten überlud und einen Keil in die NATO-Allianz trieb«.

Der Untersuchungsbefund der ICTY-Experten von Den Haag und die Behauptungen des Pentagon werfen eine wichtige Frage auf: Wie viele Leichen von ermordeten Kosovo-Albanern sind bis jetzt, also vier Monate nach dem Krieg und nach Beginn der Untersuchungen, von den gerichtsmedizinischen Teams aus vielen Ländern tatsächlich gefunden worden? Dies ist keine Übung in der Kunst des Makabren, sondern eine berechtigte Frage angesichts der ausdrücklich verkündeten Kriegsziele der NATO und ihrer Behauptung, daß die Serben Kriegsverbrechen in ungeheuerlichem Ausmaße verübt hätten.

In der Tat bestand die zentrale Rechtfertigung für den Krieg darin, daß nur eine militärische Intervention (der NATO – Anm. R. R.) das Gemetzel an der ethnischen albanischen Bevölkerung im Kosovo verhindern würde. Am 22. März 1999 sagte der britische Premierminister Tony Blair vor dem Unterhaus: »Wir müssen handeln, um Tausende von unschuldigen Männer, Frauen und Kindern vor der humanitären Katastrophe zu retten, vor dem Tod, vor der Barbarei und vor der ethnischen Säuberung durch eine brutale Diktatur.« Am nächsten Tag, während der Luftkrieg begann, erklärte Präsident Clinton: »Wir versuchen nichts anders, als seine (Milosevics – Anm. R. R.) Fähigkeit zu begrenzen, einen militärischen Sieg zu erringen und die ethnische Säuberung voranzutreiben und dabei unschuldige Leute abzuschlachten. Und wir werden alles tun, ihn dazu zu bringen, diese Friedensvereinbarung (gemeint ist das Rambouillet- Diktat der NATO – Anm. R. R.) anzunehmen.«

»10 000 Menschen in 100 Massakern ermordet«

Da es sich um die erste militärische Intervention der NATO gegen eine souveräne Nation handelte, verlangte der Krieg im Kosovo schon einiges an Rechtfertigung. Bereits seit Anfang des Jahres 1999 hatten NATO-Beamte dazu die Vorarbeit geleistet. Zuerst hatten sie die Situation im Kosovo als »ethnische Säuberung« bezeichnet und dann als »Genozid«. Im März erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, James Rubin, gegenüber Reportern, daß die NATO nicht erst beweisen müßte, daß die Serben eine Politik des Völkermordes betrieben, denn es sei ja ganz klar, daß sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübten. Aber unmittelbar nach Kriegsende, im Juni, kam Präsident Clinton wieder auf den Begriff des »Genozides« zurück, indem er sagte: »Die NATO stoppte eine absichtliche, systematische Politik der ethnischen Säuberungen und des Völkermordes.«

Seither sind die offiziellen Behauptungen über die Größenordnung der durch die NATO verhinderten serbischen Untaten mit jedem Monat weiter gewachsen. Die Zahl der bei der von den Serben als »Hufeisen« benannten Operation im Kosovo zu Tode gekommenen Menschen wird von Mal zu Mal höher geschätzt. Vor Beginn des Krieges hatten unabhängige Experten in nüchternen Einschätzungen angenommen, daß ungefähr 2 500 Kosovo-Albaner den Operationen der Serben im Kosovo (gegen die UCK – Anm. R. R.) zum Opfer gefallen waren. Diese Zahl wuchs während des Krieges. Aber schon kurz nach Beginn der NATO-Luftangriffe entstanden Behauptungen, die Befürchtungen weckten, daß eine riesige Zahl kosovo-albanischer Männer vermißt wurde und sie wahrscheinlich ermordet worden waren. Die Verwirrung im Krieg und übertriebenes Engagement könnten das noch erklären.

Aber am 17. Juni, kurz vor dem Ende des Krieges, sagte der Staatssekretär im britischen Außenministerium, Geoff Hoon Briten: »Auf der Basis von Berichten, die wir hauptsächlich von Flüchtlingen gesammelt haben, scheint es, daß etwa 10 000 Menschen ermordet wurden und zwar in mehr als 100 Massakern.« Er erklärte weiter, daß diese 10 000 Kosovo-Albaner von Serben umgebracht worden seien.

Am 2. August sprang die Zahl der Ermordeten um weitere tausend nach oben, als Bernard Kouchner, der Stellvertreter des UN-Missionschef für das Kosovo, verkündete, daß bereits ungefähr 11 000 Leichen in Gemeinschaftsgräbern im Kosovo gefunden worden seien. Als Quelle für seine Information gab er das ICTY in Den Haag an. Aber das ICTY erklärte, daß es diese Informationen nicht geliefert habe. Bis zum heutigen Tag ist die Quelle von Kouchners Zahlenwerk unbekannt geblieben.

Wie auch immer, die Zahl von 10 000 angeblich von serbischer Hand ermordeter Kosovo-Albaner bleibt die Grundlage für das (im Westen – Anm. R. R.) offiziell geltende Ausmaß der serbischen Greueltaten. Unabhängig von der exakten Entstehungsgeschichte dieser Zahl steht es für die NATO-Führer außer Frage, daß der Krieg deshalb nicht nur unausweichlich, sondern auch moralisch notwendig war. Selbst wenn die Serben sich im juristischen Sinn nicht des Genozids schuldig gemacht hätten, so hätten sie doch zweifellos einen Massenmord verübt, wie man ihn in dieser Größenordnung seit dem Untergang Nazideutschlands in Europa nicht mehr gesehen hätte; soweit das Argument der NATO.

Operation »Hufeisen« – ein geplanter Genozid?

Die jugoslawische Regierung hatte dagegen beharrlich alle Beschuldigungen des Massenmordes im Kosovo zurückgewiesen. Vielmehr, so behauptete sie, hätte die UCK Geschichten über Massenmorde fabriziert, um so die NATO-Intervention und die Sezession des Kosovo von Serbien herbeizuführen. Die NATO wies die Argumente Belgrads immer sofort und ungeprüft zurück. (AP-Foto: UCK-Soldaten im Juni 1999 im Nordwesten Kosovos)

So ist heute die Frage, was an den Behauptungen der Massenmorde im Kosovo Dichtung und was Wahrheit ist, mehr als nur von historischer Bedeutung. Sie trifft ins Herz der Rechtfertigung des Krieges und der aktuellen Friedensmission der NATO im Kosovo.

Zweifellos gab es eine massive Bewegung albanischer Flüchtlinge, aber das allein war nicht die Rechtfertigung der NATO für den Krieg. Die Rechtfertigung war, daß die jugoslawische Armee zusammen mit paramilitärischen Einheiten die Operation »Hufeisen« durchführte und daß der Krieg diese Operation stoppen würde, in der angeblich systematisch und im großen Stil gemordet wurde. Aber seit Ende des Krieges gibt es dafür so gut wie keinen Beweis, obwohl gerichtsmedizinische Teams überall im Kosovo nach Spuren von Kriegsverbrechen gesucht haben. Zumal es sehr schwierig ist, Massenmord zu verstecken. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, wie es war, als Leute von außerhalb nach Nazideutschland, nach Kambodscha oder Ruanda kamen, um zu verstehen, daß die Ermordung von Tausenden von Menschen jede Menge nicht zu widerlegender Beweise hinterläßt.

Geht man davon aus, daß viele NATO-Führer wegen des Krieges zu Hause massiver Kritik ausgesetzt waren, besonders in Europa, so hätte es doch für die NATO nichts Leichteres gegeben, als der Öffentlichkeit ständig neue Beweise und graphische Schilderungen über die »Killing Fields« im Kosovo vorzulegen, die die Notwendigkeit des Krieges unterstrichen und die Kritiker bloßgestellt hätten. Zudem würden solche Beweise der NATO mehr als alles andere dabei helfen, in der jugoslawischen Bevölkerung die Unterstützung für Präsident Slobodan Milosevic zu untergraben und die Opposition zu fördern. Aber niemand in der NATO scheint wirklich zu versuchen, alle im Kosovo-Krieg gemeldeten Opfer von Greueltaten zu suchen und zu bergen, trotz der politischen Bedeutung, die das hätte.

Von den acht Menschenrechtsorganisationen, die im Kosovo an vorderster Stelle tätig sind, wurde keine speziell damit beauftragt, die Opfer zu bergen und ihre Todesursache festzustellen. Statt dessen interviewen diese Gruppen Flüchtlinge und Überlebende, um Zeugnisse über Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und um sich um das seelische Wohlergehen der Überlebenden zu kümmern. All das sind wichtige Aufgaben. Aber das kann nicht die Bergung und das Zählen der Leichen ersetzen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, daß nach Angaben amerikanischer Beamter eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die vor dem Krieg im Kosovo gelebt hätten – etwa 17 000 -, aus bisher nicht geklärten Gründen verschwunden seien. Noch weniger geklärt ist jedoch die Methode, mit der die Zahl errechnet wurde. Die NATO behauptet, daß viele Archive im Kosovo von den Serben zerstört worden sind. Und zweifellos ist seit Ende des Krieges keine Volkszählung im Kosovo durchgeführt worden. So ist es absolut unklar, woher die spezifische Zahl von 17 000 kommt. Sicherlich werden viele Menschen vermißt, aber es ist unklar, ob diese Leute tot sind oder sich in Gefängnissen in Serbien befinden – amtliche Schätzungen darüber liegen weit auseinander – oder ob sie Zuflucht in anderen Ländern gefunden haben.

Morgen: Bei aller Mühe: Die Untersuchung im Kosovo fördert nicht zutage, was gebraucht wird

* Am Donnerstag begann die jW mit dem Abdruck einer Analyse des privaten US-amerikanischen Nachrichtendienstes Stratfor Intelligence, der sich kritisch mit der argumentativen Grundlage des Angriffs der NATO auf Jugoslawien auseinandersetzt. Der Bericht beschreibt, von welchen Zahlen ermordeter Kosovo- Albaner die NATO-Propaganda zu berichten wußte und daß der Krieg ohne diese aus der Luft gegriffenen Zahlen nicht legitimierbar gewesen wäre. Im zweiten Teil kommt der Bericht auf die tatsächlichen Untersuchungsergebnisse zu sprechen. *

Es sind auf jeden Fall bei weitem nicht so viele Leichen gefunden, wie der Westen erwartet hatte; zumindest bis jetzt nicht. Der riesige Grubenkomplex von Trepca hat nichts erbracht. Die meisten Toten wurden in geringen Zahlen in den ländlichen Gebieten des Kosovo gefunden, häufig in Brunnenschächten. In Berichten der Nachrichtenagenturen ist zu lesen, daß die größten Gräber nicht mehr als ein paar Dutzend Leichen enthalten haben. Nach Angaben von einigen Beamten enthielt das größte Grab ungefähr 100 Opfer. Aber die Leichen werden im Kosovo im allgemeinen nur in sehr kleinen Zahlen gefunden, weitaus kleiner als nach dem Krieg in Bosnien.

Zur Zeit gibt es nur ein Unternehmen, das schließlich aufklären könnte, wie viele Kosovo-Albaner von serbischer Seite getötet wurden oder auch nicht! Das ICTY (Das Internationale Tribunal für Kiregsverbrechen in der ehemaligen Republik Jugoslawien – Anm. d. Red.) koordiniert Bemühungen, Kriegsverbrechen im Kosovo zu erfassen und zu erforschen. Allerdings scheint es nicht das vorrangige Ziel des Tribunals zu sein, alle als tot Gemeldeten auch zu finden. Statt dessen sammeln die Mitarbeiter des Tribunals Beweise, um Kriegsverbrecher wegen speziell definierter Verbrechen zu verfolgen: wegen schwerster Verstöße gegen die Genfer Konvention, wegen der Verletzungen der Kriegsordnung, wegen Völkermordes und wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Das Tribunal glaubt allerdings, daß es ihm auch möglich sein wird, zu einem späteren Zeitpunkt eine genaue Zahl der tatsächlichen Tötungen anzugeben. Mit einem Zwischenbericht kann nach Aussagen des Sprechers des Tribunals, Paul Risley, gegen Ende Oktober gerechnet werden.

Unter der Anleitung des Tribunals werden Polizei und gerichtsmedizinische Teams aus den meisten NATO- Ländern und einigen neutralen Staaten angewiesen, bestimmte Gräberstätten zu untersuchen. Die Teams kommen aus 15 Ländern: Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Island, Luxemburg, die Niederlande, Spanien, Schweden, die Schweiz, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben das größte Team, mit 62 Mitgliedern. Belgien, Deutschland und das Vereinigte Königreich haben jeweils ein Team von ungefähr 20 Experten geschickt. Die meisten Länder schickten Teams mit weniger als zehn Leuten. Bisher haben die gerichtsmedizinischen Teams etwas mehr als ein Viertel ihrer Feldarbeit geleistet. Insgesamt haben sie dabei ungefähr 150 von 400 vermuteten Gräberstätten untersucht.

Der Untersuchungsprozeß verläuft wie folgt: Auf Berichte von Flüchtlingen oder KFOR-Truppen hin begeben sich die ICTY-Experten vor Ort ins Feld, um die Existenz von einer Grabstätte zu bestätigen, oder auch nicht. Dann entsendet das Tribunal ein nationales Team in eine bestimmte Region und markiert, welche Stätten untersucht werden müssen. Die designierten Stätten sind entweder Massengräber – was nach Definition des Tribunals bedeutet, daß mehr als eine Leiche im Grab liegen muß – oder Tatorte eines Verbrechens, die andere Beweise hergeben. Die Teams exhumieren die Leichen, zählen sie und führen Autopsien durch, um Alter, Geschlecht, Ursache des Todes und Zeitpunkt des Todes festzustellen. Alles, um Beweise für die späteren Kriegsverbrechenprozesse zu sammeln. Ein Nebenprodukt dieser Arbeit ist, daß die Zahl der tatsächlich gefundenen Leichen festgestellt wird.

Die Untersuchungen sollen nächstes Jahr fortgesetzt werden, wenn das Wetter weitere Exhumierungen erlaubt. Bis jetzt gibt es jedoch noch keine amtliche Zahl für die von den gerichtsmedizinischen Teams insgesamt gefundenen Leichen. Wenn wir wissen wollen, was wirklich im Kosovo geschehen ist, sind wir gezwungen, uns ein Bild auf der Grundlage der bisher bekannt gewordenen Tatsachen zu machen. Von dieser Basis ausgehend ist es klar, daß die Teams keine ausreichend große Anzahl von Toten gefunden haben, um die Behauptung des »Genozides« zu bestätigen. Trotz größter Anstrengungen. Die Arbeit des FBI-Teams ist dafür ein gutes Beispiel. Das FBI hat bereits zwei verschiedene Untersuchungen durchgeführt; eine im Juni und eine im August, und vermutlich wird es nochmals in das Kosovo zurückgerufen werden. Nach Angaben des FBI-Sprechers Dave Miller fand das FBI bei seinem jüngsten Einsatz im britischen Sektor des Kosovo insgesamt 124 Leichen. Fast alle Opfer waren durch einen Schuß in den Kopf oder durch einen schweren Schlag auf den Kopf getötet worden. Das Alter der Opfer lag zwischen vier und 94 Jahren. Die meisten Opfer schienen im März und April 1999 getötet worden zu sein. Bei seinen zwei Einsätzen im Kosovo seit Ende des Krieges, hat das FBI-Team zusammengenommen 30 Gräberstätten mit insgesamt fast 200 Leichen untersucht.

PR-Maschine der UCK

Das spanische Team wurde vor seinem Einsatz gewarnt, auf das Schlimmste gefaßt zu sein. Ihm wurde gesagt, es müßte mit über 2 000 Autopsien rechnen. Aber was das Team tatsächlich entdeckte, war weit entfernt von diesen schrecklichen Erwartungen. Er fand kein einziges Massengrab und nur 187 Leichen in Einzelgräbern. »Im ehemaligen Jugoslawien sind Verbrechen begangen worden, zweifellos, und einige davon sind sehr schrecklich, aber sie müssen dem Krieg zugerechnet werden.« So wurde Juan Lopez Palafox, der Chefinspektor des spanischen Teams, in der spanischen Tageszeitung El Pais zitiert, wonach Kosovo nicht mit Ruanda vergleichbar sei. »In Ruanda haben wir an einem Ort 450 Leichen von Frauen und Kindern gefunden, eine über der anderen, alle mit aufgebrochenen Schädeln.«

Und außerdem sind die Leichen im Kosovo einfach nicht dort, wo sie vermutet wurden. Im Juli z. B. glaubte man bei Ljubenik, in der Nähe von Pec ein Massengrab mit zirka 350 Leichen zu öffen. In der Gegend hatten schwere Kämpfe stattgefunden. Aber nachdem die Exhumierung beendet war, hatte man insgesamt nur sieben Tote gefunden. Viele Fälle dieser Art hat es gegeben, wobei allerdings von niedrigeren Zahlen ausgegangen wurde. Viele der ursprünglichen Behauptungen über die Existenz von Massengräbern mit zehn bis 50 Leichen haben sich anschließend als falsch herausgestellt.

ICTY-Untersuchungsbeamte, die an den in solchen Berichten bezeichneten Stätten nachgeforscht haben, haben keine Leichen gefunden.

In Djacovica behaupteten (kosovo-albanische, Anm. R.R.) städtische Beamte, daß 100 Kosovo-Albaner ermordet worden seien, aber daß dann mitten in der Nacht die Serben zurückgekommen wären, um die Leichen wieder auszugraben und abzutransportieren. In Pusto Selo berichteten Dorfbewohner von 106 Männern, die von Serben Ende März gefangengenommen und umgebracht worden seien. Die NATO gab sogar Satellitenaufnahmen frei, und zeigte Bilder, auf denen scheinbar zahlreiche Gräber zu sehen waren. Aber auch diesmal wurden bei einer Untersuchung vor Ort keine Leichen gefunden. Dorfbewohner behaupteten, daß serbisches Militär zurückgekommen sei und die Leichen weggeschafft hätte. In Izbica berichteten Flüchtlinge, daß 150 Kosovo-Albaner im März getötet worden seien. Auch diesmal konnten ihre Leichen nirgendwo gefunden werden. Sechsundneunzig Männer sind angeblich im April aus Klina verschwunden. Auch ihre Leichen müßten noch entdeckt werden.

Was ist geschehen? Tötungen und Brutalität haben zweifellos stattgefunden. Auch ist es möglich, daß eines Tages neue Entdeckungen gemacht werden. Ohne jedes Detail einer jeden Untersuchung vor Ort im Kosovo zu kennen, ist es nur möglich, Mißtrauen zu äußern und keine abschließenden Beweise vorzulegen. Jedoch zeigen sowohl unsere eigenen Nachforschungen als auch die Aufzeichnungen von Beamten, daß die Zahlen der Toten nur in die Hunderte und nicht in die Tausende geht. Es ist jedoch nicht gänzlich auszuschließen, daß sehr große, neue Gräber noch ihrer Entdeckung harren. Aber es darf davon ausgegangen werden, daß die Kosovo-Albaner vermutlich am meisten daran interessiert wären, daß die größten Gräberfelder zuerst geöffnet würden, alleine schon, um Gewißheit über den Verbleib von vermißten Familienangehörigen zu erhalten. Außerdem gäbe es für große Gräber die meisten Zeugen und somit Beweise, wovon sicherlich dann auch die Inspektionsteams des ICTY erfahren hätten.

Legt man die bisherigen Ergebnisse zugrunde, dann scheint es schwierig zu glauben, daß die bei Kriegsende genannte Zahl von 10 000 Ermordeten je gefunden werden kann. Die tatsächliche Zahl der getöteten kosovo- albanischen Zivilisten scheint um mehrere Größenordnungen unter dieser Behauptung der NATO, der Regierungen ihrer Mitgliedsländer und der führenden Medien zu liegen. Wie konnte dies geschehen? Es scheint, daß sowohl die Regierungen als auch sogenannte unabhängige Beobachter sich ganz und gar auf Informationsquellen verließen, die vor und während des Krieges von der UCK gesteuert wurden. Während des Krieges wurde diese freiwillige und einseitige Informationsabhängigkeit sogar noch schlimmer, als die Regierungen sich fast ausschließlich auf die Erzählungen der Flüchtlinge in Albanien und Mazedonien verließen, wo die UCK ein wichtiges Organ der Informationsvermittlung war. Die hochentwickelte Public-Relations-Maschine der UCK und die Verwirrungen des Krieges haben eine Vorstellung entstehen lassen, die sich nun als höchst zweifelhaft erweist.

Fakt ist, daß niemand systematisch die Zahlen der Toten in Kosovo erfaßt, obwohl eine solche Arbeit der NATO in ihren Bemühungen, im Kosovo zu bleiben, nur helfen würde, ja womöglich sogar Milosevic stürzen könnte. Die Schlußfolgerung, die bis jetzt aus den Untersuchungen gezogen werden muß, deutet an, daß die tatsächlichen Todesfälle weit unter den Erwartungen liegen. Das ganze, in der Zwischenzeit entstandene Mißtrauen könnte durch einen umfassenden Bericht der NATO, der UNO oder der Vereinigten Staaten und anderer verantwortlicher Regierungen leicht zerstreut werden. Dazu müßten die Details der Untersuchungsergebnisse der gerichtsmedizinischen Teams aufgeführt werden und ein Zeitrahmen für die Untersuchung und ihren Abschluß angegeben werden. Es ist jedoch unklar, ob alle diese Punkte überhaupt angesprochen werden, selbst wenn das ICTY einen Bericht vorlegen wird. Das Fehlen eines Zwischenberichtes des ICTY, der detailliert über die Anzahl der entdeckten kosovo-albanischen Opfer berichtet, erscheint uns höchst seltsam.

Beweisnot der NATO

Man sollte doch davon ausgehen können, daß Clinton, Blair und die anderen NATO-Führer eifrig bemüht sein müßten, der Welt zu beweisen, daß der Krieg nicht nur unvermeidbar, sondern moralisch zwingend erforderlich war. Wie viele Menschen im Kosovo tatsächlich ermordet wurden, spielt schon eine wichtige Rolle. Die Implikationen für die Außen- und Innenpolitik sind erheblich. Denn es gibt schon einen Trennungslinie zwischen Repression und Massenmord. Das ist zwar kein Unterschied wie Tag und Nacht. Aber der Unterscheidung zwischen Hunderten und zehntausend Toten ist deutlich. Wenn dieser Unterschied verwischt wird, dann hat das schwerwiegende Auswirkungen nicht nur für den Zusammenhalt der NATO, sondern auch für den Begriff der nationalen Souveränität. Wenn eine Handvoll – oder einig Dutzend Leute – bei Arbeiterunruhen getötet werden, heißt das, daß dann die internationale Gemeinschaft das Recht hat, mit Waffengewalt einzugreifen?

Auf Grund der Verhaltensregeln, die die NATO selbst aufgestellt hat, ist die Größenordnung des Gemetzels von kritischer Bedeutung. Was die Informationsbeschaffung über den Krieg betraf, so hing die NATO sehr stark von den USA ab. Wenn sich nun die Vereinigten Staaten und die NATO geirrt haben, dann stecken die Regierungen der NATO-Länder in großen Schwierigkeiten, besonders die, die sich in ihrer Bevölkerung wegen ihrer Beteiligung am Krieg heftiger Kritik ausgesetzt sahen, wie das z. B. in Deutschland und Italien der Fall war. Das Vertrauen der NATO-Länder sowohl in die Verläßlichkeit der nachrichtendienstlichen Auswertungen als auch in die Führungsqualitäten der USA könnte rapide sinken.

Vor dem Hintergrund der persönlichen Skandale und der Meinungsverschiedenheiten in Washington über seine Außenpolitik hat die Clinton-Regierung bereits Schwierigkeiten, Ereignisse in anderen Teilen der Welt zu beeinflussen. Ihr Einfluß könnte noch weiter zurückgehen. Sollte sich tatsächlich herausstellen, daß die Behauptungen der NATO über die angeblichen serbischen Greueltaten im wesentlichen Falschinformationen waren, dann könnte das weitreichende Folgen haben.

(Originaltitel des Berichtes: »Where are Kosovo’s Killing Fields«, von Stratfor Intelligence, Austin, Texas, USA, 17. 10. 1999)

*** Die in der jungen Welt ungekürzt wiedergegebene kritische Stratfor-Analyse war am 17. Oktober 99 über E-Mail an Abonnenten des privaten amerikanischen Nachrichtendienstes für Großunternehmen verteilt worden. Mit seinen Zweifeln an der Aufrichtigkeit der NATO geriet Stratfor sofort unter massiven Beschuß. So sehr sogar, daß sich der Geschäftsführer Dr. George Friedman genötigt sah, bereits am 19. Oktober einen E- Mail-Rundbrief mit zusätzlichen Erklärungen zu verschicken. In dem Rundschreiben geht Dr. Friedman auf verschiedene Vorwürfe ein, diesmal jedoch mit einer Deutlichkeit, die für die oft übervorsichtigen Formulierungen in der eigentlichen Analyse entschädigt. Das Rundschreiben von Dr. Friedman ist nachfolgend ebenfalls in deutscher Übersetzung ungekürzt abgedruckt.

Das Friedman-Rundschreiben

Date: Tue, 19 Oct 1999 From: George Friedman Organization: STRATFOR Inc.

Sehr geehrter Herr ……..

Die Behauptung, daß die serbische Regierung unsere Webseite zerhackt hat, ist nicht nur in hohem Maße unangebracht, sie vergiftet vielmehr jeglichen rationalen Diskurs. Sie scheinen die Position einzunehmen, daß niemand, der im Vollbesitz seiner Sinne ist, überhaupt die Frage aufwerfen kann, ob die NATO mit ihren Behauptungen auch wirklich die Wahrheit gesagt hat. Wer trotzdem eine solche Frage stellt, der kann Ihrer Meinung nach nur im Dienste der Serben stehen. Ich kann nicht verstehen, warum Sie glauben, damit die Diskussion über diese Sache zu befördern.

Es ist möglich, daß Leichen abtransportiert oder sonstwie weggeschafft worden sind. Deshalb sind die gerichtsmedizinischen Teams vor Ort. Sie sind darin ausgebildet, Verbrechen zu erkennen, auch lange nachdem die Leichen weggeschafft worden sind. Deshalb haben wir auch sehr sorgfältig die Sprecher verschiedener Teams interviewt, einschließlich des FBI. Wir fragten spezifisch, ob sie Beweise für weggeschaffte Leichen gefunden hätten. Als Beweismittel gelten z. B. Blutspuren oder Körperfragmente in den geleerten Gräbern, oder Gase in den Erdklumpen und so weiter. Nach Aussagen des FBI und der anderen Teams haben sie keine Beweise dafür gefunden, daß in den Gräbern je Leichen gelegen haben, in denen nach Angaben der Kosovo-Albaner die Serben ihre Opfer zuerst begraben hätten, um sie anschließend wieder wegzuschaffen. Jetzt, mein Herr, können Sie diese Behauptung zurückweisen, aber dann weisen Sie nicht uns zurück, sondern die Befunde des gerichtsmedizinischen Teams.

Das Büro des ICTY hat uns gegenüber eindeutig erklärt, daß sich die Zahl der Stätten, wo Massengräber vermutet werden, auf 400 beläuft. Sie können sich geirrt haben, aber diese Angaben hat das Büro während zwei verschiedener Interviews mit Stratfor gemacht. Allerdings ist es uns bei unseren Nachforschungen mehrmals aufgefallen, daß Zahlen ganz beiläufig und ohne überprüfbare Beweise von zahlreichen offiziellen Stellen verbreitet werden. Dies ist einer dieser Fälle.

Die Frage nach der Anzahl der Toten ist in doppelter Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Erstens ist es das, was die NATO behauptet hat, und es macht schon etwas aus, ob die NATO die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Als ein Bürger, der den Vietnam-Krieg mitgemacht hat, mit seiner falschen Rechtfertigung durch den Vorfall vom Golf von Tonking, verlange ich Wahrhaftigkeit von meiner Regierung, bevor unser Land in den Krieg zieht. Sie (die Regierung) hat behauptet, daß Tausende ermordet würden. Wenn das nicht stimmt, dann macht mir das schon etwas aus. Es ist ein Standard, an dem ich meine Regierung messe. Es steht Ihnen frei, sich einen andere Standard zu wählen.

Zweitens, wenn der Schwellwert für eine Invasion und den Verlust der Souveränität bei 200 Toten liegt, die bei ethnischen Gewalttätigkeiten ihr Leben verloren haben, dann hätte der casus belli (Kriegsfall) schon für alle möglichen Länder eintreten müssen, von Großbritannien über die Türkei bis hin nach Südkorea. Die NATO führte Krieg gegen Serbien, weil sie behauptete, daß die Serben Verbrechen begingen, die nur mit militärischen Aktionen gestoppt werden könnten. Wenn Tausende ermordet worden wären, dann würde ich zustimmen, daß der Krieg gerechtfertigt gewesen wäre. Wenn jedoch die Verbrechen Serbiens sich nicht von denen anderer Länder unterscheiden, dann wird die Entscheidung, Serbien zu bombardieren, moralisch verdächtig. Die Frage nach der Größenordnung (der Zahl der Getöteten) ist daher von entscheidender Bedeutung.

Der Vergleich mit Ruanda und anderen Ländern ist ziemlich einfach. Wir suchen nach Beweisen, die die Behauptungen der NATO untermauern könnten. Dabei versuchen wir festzustellen, ob Behauptungen, wie die Ihren, überhaupt vernünftig sein können, daß nämlich dieser Massenmord stattgefunden hat, die Serben aber durch die spezifischen Umstände der Tötungen die Beweise beiseite schaffen konnten. Um die Vernünftigkeit dieser Behauptung zu überprüfen, müssen wir uns deshalb zuerst mit der Logistik des Massenmordes beschäftigen. Wenn dies ein makabres Thema ist, so haben Sie es mit Ihrer Behauptung aufgeworfen, daß es sich um eine Vertuschung handelt. In anderen Fällen des Massenmordes hat es sich stets als unmöglich erwiesen, besonders unter Kriegsbedingungen, die Örtlichkeiten so gründlich zu säubern, daß gerichtsmedizinische Teams Schwierigkeit gehabt hätten, Beweise zu finden. Vielmehr waren die Beweise in solchen Fällen stets für jeden deutlich sichtbar. Folglich lautet die Frage, ob in diesem Fall Massenmord auf eine Art und Weise begangen wurde, die eine spätere Überprüfung unmöglich macht. Dies ist eine sehr zweifelhafte Behauptung.

Beachten Sie bitte, daß ich Ihnen mit Höflichkeit geantwortet habe, ohne zu behaupten, daß Sie entweder die UCK oder die NATO in Schutz nehmen wollen. Ich nehme an, daß Sie, genau wie ich, zur Wahrheit in dieser Sache vorstoßen möchten und daß Sie sich durchaus vorstellen können, daß auch ein vernünftiger Mensch mit Ihrer Meinung nicht notwendigerweise übereinstimmen muß. Ich respektiere, daß Sie, wie viele andere, nicht unserer Meinung sind, ohne daß ich Sie sogleich als Dummkopf oder eine Marionette beschimpfe. Ich erwarte dasselbe von anderen.