Zivile Opfer der US-Kriegsmaschine – Die alltäglichen Kriegsverbrechen des US-Militärs
von Rainer Rupp
erschienen auf RT deutsch am 11. November, am 13. November und am 20. November 2021
Die alltäglichen Kriegsverbrechen des US-Militärs – Teil 1
“Die Regierung der Vereinigten Staaten hält es für völlig vernünftig – oder zumindest für ‘nicht unvernünftig’ –, eine unschuldige Familie von Zivilisten zu töten.” Diesen erstaunlichen, aber leider zutreffenden Satz konnte man am 4. November auf einer viel gelesenen Webseite eines der beliebtesten US-Finanzportale lesen, nämlich bei Yahoo Finance. Unter dem ins Deutsche übersetzten Titel: “Ein Drohnenangriff – Wieder einmal rechtfertigen die USA etwas, das durch nichts zu rechtfertigen ist” erklärt der Autor Joel Mathis:
“Wenn das brutal klingt, bedenken Sie Folgendes: Eine Pentagon-Überprüfung des Drohnenangriffs im August (2021), bei dem zehn Mitglieder einer afghanischen Familie während des US-Abzugs aus Kabul zu Unrecht getötet wurden, ist zu dem Schluss gekommen, dass niemand im Militär für den Angriff diszipliniert werden sollte. Das Massaker, das General Mark Milley (der ranghöchste Offizier der USA) zunächst als ‘gerecht’ bezeichnet hatte, war ausgesprochen ungerecht, aber die offizielle Überprüfung des Vorgangs ergab, dass der Prozess zur Entscheidung zum Angriff geführt hatte, in Ordnung war. Es ist das Resultat, das schlecht geworden ist.”
Und für das schlechte Ergebnis konnte natürlich niemand etwas. So zumindest lautete auch der Schluss des US-Luftwaffengenerals Sami Said, der die Untersuchung des vermeidbaren Massakers in Kabul geleitet hatte, bei dem Herr Zemerai Ahmadi und neun weitere unschuldige Mitglieder seiner Familie von einer US-Rakete in Stücke gerissen worden waren. Dabei handelte es sich nicht um einen Unfall, wie z. B. wegen eines Raketenirrläufers, oder einen tragischen Fehler aufgrund falsch eingegebener Zielkoordinaten.
Vielmehr wurde die Apartmentwohnung von Herrn Ahmadi samt Bewohnern aufgrund schlampiger nachrichtendienstlicher Aufklärung und eines Cowboy-Schnellschusses aus der Hüfte zur Zerstörung preisgegeben. Das ist das Resultat der im US-Militär herrschenden “Kultur” der Straflosigkeit bei der Tötung von Zivilisten. Trotz der Existenz gegenteiliger Gesetze und entsprechender Pro-forma-Verhandlungen vor US-Militärgerichten bei schwereren Fällen sorgt diese im US-Militär tief verwurzelte “Un-Kultur” dafür, dass die schuldigen US-Soldaten und Offiziere nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Dementsprechend fiel auch die Erklärung des US-Luftwaffengenerals Sami Said aus, als er gegenüber Associated Press zur Tötung von Familie Ahmadi Stellung nahm:
“Ich fand heraus, dass sie (also die Verantwortlichen, die das Ziel ausgewählt und die Killerrakete zum Abschuss freigeben hatten, Anmerkung das Autors) angesichts der Informationen, die sie hatten, und der Analyse, die sie gemacht haben, die falsche Schlussfolgerung gezogen haben, aber … War es vernünftig, auf der Grundlage dessen, was sie hatten, die Schlussfolgerung zu ziehen, die sie gezogen haben? Es war nicht unvernünftig!”, schloss der Generalleutnant der US Air Force und fügte hinzu: ‘Es stellte sich einfach heraus, dass es falsch war’.”
Das hört sich an wie “Oh, dumm gelaufen, aber da kann man nix machen”. Angesichts der zehn Toten, die meisten davon waren Kinder, ist diese respektlose, schnodderige Art des US-Luftwaffengenerals Said dennoch typisch für den Umgang des Pentagons mit katastrophalen humanitären Folgen von vermeidbaren Fehlern. Allerdings kann General Said damit mit viel Verständnis und Sympathie rechnen, nicht nur beim US-Militär, sondern auch in breiten Bevölkerungsschichten des humanitären Vorbildstaates USA.
Es wäre eventuell noch nachvollziehbar, wenn Menschen versuchen würden, dieses Massaker an der Ahmadi-Familie mit dem in Kabul während des überhasteten US-Rückzugs herrschenden Chaos als bedauernswerten Unfall zu entschuldigen. Aber diese Vorgehensweise des US-Militärs ist kein Einzelfall, sondern vielfach eingeübte Routine. Selbst bei den als so sicher und präzise gelobten Drohnenangriffen ist es immer wieder zu katastrophalen Fehlern gekommen, die das Leben von vielen Tausenden unschuldiger Menschen gekostet haben.
Auch das bekannteste US-Drohnenmassaker bei einer Hochzeitsfeier in einem abgelegenen afghanischen Dorf, bei dem 53 Menschen getötet und viel mehr verkrüppelt wurden, blieb kein Einzelfall. Laut dem Londoner “Bureau of Investigative Journalism” haben die USA im Zeitraum Januar 2004 bis Februar 2020 bei 14.040 Einsätzen von Killerdrohnen in Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia auch immer wieder mal Hochzeitsgesellschaften angegriffen und bis zu 454 Kinder getötet.
Aber Folgen für die Täter gab es nie. Weder wurden die Drohnenpiloten vor ihren Video-Monitoren noch die Kriegsverbrecher an ihren Schreibtischen zur Verantwortung gezogen. Vor allem seit Beginn des hochkriminellen US-“Krieges gegen den Terror” sind in den letzten zwei Jahrzehnten Massaker an unschuldigen Zivilisten, vor allem an Frauen und Kindern, zur alltäglichen Routine der US-Kriegsmaschine geworden.
Laut einer neuen Analyse von “Airwars”, einer US-Gruppe für die Überwachung ziviler Schäden durch US-Luftkriege, sind seit dem 11. September 2001 im Rahmen des “US-Krieges gegen den Terror” bei US-Drohnen- und Luftangriffen mindestens 22.000 Zivilisten – und vielleicht sogar 48.000 – getötet worden. Diese Analyse basiert auf der eigenen Behauptung des US-Militärs, das seit 2001 fast 100.000 Luftangriffe durchgeführt hat.
Die “Airwars”-Gruppe räumt selbst ein, dass die Zahl der Todesopfer durch US-Luftangriffe ungenau ist, und merkt an, dass laut einer Erklärung des Pentagons das US-Militär nie versucht habe, die Gesamtzahl der zivilen Todesfälle zu zählen, die auf Aktionen des US-Militärs im Krieg gegen den Terror zurückgehen. In einer E-Mail-Antwort des Zentralkommandos (CENTCOM) des Pentagons an “Airwars” hieß es, dass es keine Informationen über die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer durch Luftangriffe habe.
Auch hält die obere Zahl der Bandbreite der Airwars-Schätzung von 22.000 bis 48.000 getöteten Zivilisten einem Vergleich mit der weitaus umfassenderen Forschungsarbeit einer Gruppe an der US-amerikanischen Brown University nicht stand. Das “Costs of War Project” der Brown University hat über die letzten zwanzig Jahre nicht nur die offiziellen Zahlen des Pentagons über vermutliche zivile “Kollateralschäden” gesammelt, sondern auch in mühsamer Arbeit lokale Berichte aus den betroffenen Ländern über die US-Luftangriffe und ihre Folgen analysiert und kam so auf die Zahlen von schätzungsweise 387.000 getöteten Zivilisten. Aber wenn die Kläger kein Gehör finden, dann gibt es auch keine Angeklagten.
Wie viele andere große und kleine Massaker an Zivilisten durch die US-Streitkräfte wäre auch die Auslöschung der zehnköpfigen Familie von Herrn Ahmadi in Kabul vor der US- und Weltöffentlichkeit verborgen geblieben, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht der Fokus der internationalen Medien auf dem Chaos des Abzugs der US-Armee und ihrer verbündeten NATO-Vasallen gelegen hätte. Der Drohnenangriff auf die kinderreiche Familie Ahmadi war einfach der gewesen, der plötzlich große mediale Aufmerksamkeit erregt hat.
“Es hat im Laufe der Jahre unzählige solcher Luftschläge gegeben und so viele absichtlich ungezählten Todesfälle, die im Schatten der Angriffe passiert sind”, kommentierte Matt Duss, der außenpolitische Berater des demokratischen US-Senators Bernie Sanders, am 3. November auf Twitter die Entlastung der verantwortlichen Täter durch die Top-Offiziere des Pentagons für die Tötung der Familie Ahmadi.
Diese seit Langem innerhalb der US-Streitkräfte gepflegte Kultur der Straffreiheit bei Massakern an Zivilisten erhöht bei den Verantwortlichen natürlich nicht die Neigung zur sorgfältigen Prüfung der Zielauswahl und Abwägung eventueller “ziviler Kollateralschäden” in Form von toten Frauen und Kindern. Es ist dieser verantwortungslose, laxe Umgang des US-Militärs mit dem Wert des Lebens der Menschen der Gegenseite, egal ob Soldat oder Zivilist, der in der gesamten US-Militärgeschichte eine endlose Kette von Kriegsverbrechen aneinanderreiht.
Es begann mit dem Genozid an der nordamerikanischen Urbevölkerung. Die jeweils von höchster politischer und militärischer Führung gebilligte und teilweise sogar befohlene willkürliche Zerstörung von menschlichem Leben war dann auch im Amerikanischen Bürgerkrieg omnipräsent und manifestierte sich mit den Massakern an gefangenen Soldaten und Zivilisten der jeweiligen Gegenseite. Mit nicht minderer Brutalität wurden die ersten imperialistischen Abenteuer der USA bei der Eroberung der Philippinen durchgeführt.
Auch nach dem sogenannten “Guten Krieg” gegen Nazideutschland und Japan hat das US-Militär auf Befehl der höchsten politischen Führung ohne militärische Notwendigkeit jeweils eine Atombombe gegen die Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki eingesetzt. Auch im Koreakrieg ging das Massenmorden an der Zivilbevölkerung weiter, wofür beispielhaft das Massaker von Nogeun-ri steht, was später in Vietnam mit der Ermordung aller Einwohner von Mỹ Lai 1968 fortgesetzt wurde, wobei die Vorgehensweise der US-Soldateska in Mỹ Lai der der SS-Schergen bei der Vernichtung sämtlicher Einwohner des französischen Dorfes Oradour 1944 in nichts nachsteht.
Dabei sind sowohl Nogeun-ri als auch Mỹ Lai nur die Spitze des Eisbergs. Sie stehen stellvertretend für viele andere Dörfer, die samt ihrer Einwohner auf ähnliche Weise ausgelöscht wurden, deren Schicksal jedoch bis heute vor der westlichen Öffentlichkeit verborgen geblieben ist. Auch das Massaker von Nogeun-ri wurde erst knapp 50 Jahre nach der Tat im Herbst 1999 im Westen bekannt, und auch dort war es den meisten Medien – wenn überhaupt – nur eine Randnotiz wert.
Teil der DNA des US-Militärs – Teil 2
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten von Amerika in die Fußstapfen des Britischen Imperiums getreten, das bereits im Jahr 1556 seine erste Kolonie in Irland etabliert hatte und in den folgenden Jahrhunderten die einheimische Bevölkerung mit brutaler Gewalt gnadenlos ausgebeutet hat. Insgesamt dürften im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte sogar Millionen irischer Zivilisten dem britischen Besatzungsregime zum Opfer gefallen sein. Denn wem es nicht gelang auszuwandern, wurde nicht selten vom Hungertod oder durch von Unterernährung hervorgerufene Krankheiten dahingerafft.
Auf der Höhe seiner unerbittlichen Herrschaft erstreckte sich das Britische Imperium mit seinem Netzwerk von Vasallen und Kolonien über den ganzen Globus. Das ausschließlich auf Ausbeutung und Profitmaximierung fokussierte Imperium dominierte eine Zeit lang alle Kontinente. Im Jahr 1920 bedeckte es rund 24 Prozent der gesamten Landfläche der Erde. Laut der englischen Dokumentation “Alle Länder, die wir jemals erobert haben: Und die wenigen, bei denen wir nicht dazu gekommen sind” (“All the Countries We’ve Ever Invaded: And the Few We Never Got Round To“) gibt es nur 22 Länder, die von den britischen Eroberungsgelüsten verschont geblieben sind. Von denen sind Schweden, Weißrussland, Luxemburg und der Vatikan die bekanntesten.
Die USA unterhalten aktuell auch nach ihrem Abzug aus Afghanistan immer noch fast 800 Militärstützpunkte in mehr als 70 Ländern und Territorien rund um die Welt. Die alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich haben zusammen nur noch weniger als 30 ausländische Stützpunkte. Aber die USA halten viele Länder, auch ohne Militärbasen auf deren Territorium zu haben, mithilfe ihrer ökonomischen und finanzpolitischen Erpressungsmethoden unter ihrer politischen Kontrolle. Dennoch wird auch in diesen Fällen strukturelle Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angewandt. Denn infolge der US-geführten, neoliberalen Globalisierung und deren Folgen in Form von massenhafter Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten dieser Länder fordert diese Politik ganz ohne Militärinterventionen alljährlich viele Opfer.
Die Un-Kultur der Gewalt gegen Zivilisten im US-Militär geht auf den Amerikanischen Bürgerkrieg zurück, in dem dies legalisiert wurde. Zuvor hatten sich die Truppen der Vereinigten Staaten in den Indianerkriegen bereits durch besondere Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung der indigenen Stämme in eroberten Territorien hervorgetan. Diese Gräueltaten waren größtenteils von der jeweiligen militärischen und politischen Führung angeordnet, aber sie passierte noch in einer Grauzone ohne offizielle juristische Legalisierung durch den Staat. Erst durch das erste kodifizierte Handbuch zum US-Kriegsrecht wurde dieses Vorgehen legalisiert. Zugleich wurde in diesem Handbuch auch die Zivilbevölkerung des Gegners zu Feinden abstempelt. Diese sollten für ihre Sympathie und moralische Unterstützung der Soldaten ihrer Heimat einerseits bestraft und andererseits davon abgehalten werden, Widerstandskämpfern materielle Hilfe zu leisten.
Diese menschenverachtende Strategie des US-Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung zieht sich wie ein roter Faden bis in die Gegenwart, angefangen mit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) über die ersten imperialistischen Expansionskriege in Lateinamerika und den Philippinen und weiter über die unzähligen US-Kriege und Interventionen rund um die Welt im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart der US-Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen usw. Die militärischen Methoden der angeblich humanitären Vorzeigedemokratie USA zur Bestrafung einer widerspenstigen Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten haben sich dabei nicht selten von denen der Nazi-Schreibtischtäter und ihrer Mörder in SS und Wehrmacht unterschieden.
Es war ein deutscher Einwanderer in die USA, der Jurist Francis Lieber, der zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs für die Unionstruppen der Nordstaaten das Handbuch über Kriegsführung und Besatzungsrecht geschrieben hat. Der nach ihm benannte “Lieber Code” wurde mitten im Bürgerkrieg am 24. April 1863 vom damaligen US-Präsidenten Abraham Lincoln unterzeichnet und als “Militärische Anweisung des Präsidenten” an die Truppen der Nordstaaten gegeben.
Der Lieber Code war damit das erste schriftlich fixierte, juristische Handbuch mit Vorgaben zur Kriegsführung in der Geschichte der Menschheit. Auch heute noch wird der Lieber Code von seinen intellektuellen Verteidigern in den USA als erstes Regelwerk zur angeblichen Humanisierung des Krieges gelobt, obwohl es sich dabei um das genaue Gegenteil handelte, wie wir sehen werden. Trotzdem blieb der Lieber Code für mehr als fünfzig Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, also bis zum Ersten Weltkrieg, das offiziell von der amerikanischen Armee erklärte Kriegsrecht für den Landkrieg. Später diente der Lieber Code als Basis für ein entsprechendes Field Manual (Handbuch) für die gesamten amerikanischen Streitkräfte und im Offizierskorps hat der Code offensichtlich Nachwirkungen bis heute, zumindest so weit das die verbrecherische Behandlung von Zivilisten betrifft.
Natürlich standen im Lieber Code an oberster Stelle der Prioritätenliste der eigene Sieg und die Vernichtung des Gegners. Und das Gebot, dass dieses Ziel – egal mit welchen Mitteln – zu erreichen sei, war durchaus zeitgemäß. Aber in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung des Feindes stand der Lieber Code den bereits Mitte des 19. Jahrhunderts weit entwickelten philosophischen und juristischen Grundlagen zur humanen Behandlung von unbeteiligten Zivilisten bei militärischen Konflikten diametral entgegen. In Europa wurde damals bereits wie folgt argumentiert und weitgehend gehandelt:
“Ein Souverän führt gegen einen anderen Souverän Krieg und nicht gegen die unbewaffneten Bürger des anderen Landes. Durch die Eroberung bekommt die Zivilbevölkerung lediglich einen neuen Herrn. Der Eroberer beschlagnahmt die Besitztümer des Staates, das öffentliche Eigentum, während für unbeteiligte Privatpersonen die körperliche Unversehrtheit gilt und sie auch ihr Hab und Gut behalten dürfen. Auch sonst dürfen Zivilisten nicht grundlos bestraft werden.”
Daran haben sich z. B. die Truppen Napoleons in den eroberten Gebieten in der Regel gehalten, mit Ausnahme in Spanien, wo sie mit einer starken Guerilla über Jahre hinweg zu kämpfen hatten. Dagegen legalisiert der Lieber Code, dass der jeweilige Kommandeur aufgrund der “militärischen Notwendigkeit”, bzw. Zweckmäßigkeit, jederzeit nach eigenem Ermessen über Leben oder Tod von Zivilisten der Gegenseite, über Zerstörung oder Raub deren Eigentums entscheiden konnte. Laut Anweisung im Lieber Code steht die jeweilige “militärische Notwendigkeit” als höchster Wert über allen anderen Werten. Zugleich indoktrinierte der Lieber Code die Soldaten der Nordstaaten, auch in der unbeteiligten Zivilbevölkerung des Gegners den Feind zu sehen, der bestraft werden musste.
Dr. Rotem Giladi von der juristischen Fakultät der Hebrew University of Jerusalem hat in einem Beitrag für die “International Review” des Roten Kreuzes, Frühjahr 2012, unter dem Titel “A Different Sense of Humanity: The Francis Lieber Code” (Ein anderes Verständnis von Menschlichkeit: Der Francis Lieber Code) die inhumane und verbrecherische Sicht Liebers auf die Rolle von unbeteiligten Zivilsten auf der Seite des Gegners herausgearbeitet. Laut Lieber ist demnach
“der Bürger oder Eingeborene eines feindlichen Landes ein Feind. Als Bestandteil des feindlichen Staates oder der feindlichen Nation ist er als solcher den Härten des Krieges auszusetzen”.
Aus der angenommenen kollektiven Verantwortung von Nichtkombattanten für den Krieg habe Lieber – so Giladi – die theoretische Grundlage für die moralische und juristische Rechtfertigung für das Leiden der Zivilisten abgeleitet. Zivilisten hätten kein individuelles Recht auf Leben oder physische Unversehrtheit oder auf den Schutz von Hab und Gut. Ihr Leiden sei demnach der jeweiligen “militärischen Notwendigkeit” der Sieger unterworfen.
Weiter verweist Giladi darauf, dass laut Lieber “der Schutz der Person oder des Vermögens von Nichtkombattanten nicht nur der militärischen Notwendigkeit untergeordnet ist, sondern auch sonst ziemlich illusorisch erscheint”.
Laut Lieber ist der harmlose Zivilist der Gegenseite letztlich eine Geisel der “übergeordneten Forderungen einer energischen Kriegsführung”; Art. 23 des Lieber Codes. Und in Art. 27 werden sogar implizit schwerste Repressalien gegen zivile Geiseln legalisiert. Dort heißt es, dass für “zivilisierte Nationen die Vergeltung das strengste Merkmal des Krieges” ist. Die Vergeltungsaktionen seien jedoch zulässig, um eine “Wiederholung von empörenden, barbarischen Aktionen” gegen die eigene Seite auszuschließen.
Giladi verweist darauf, dass unter dem Lieber Code selbst unbewaffnete, am Krieg nicht beteiligte, inoffensive Zivilisten von den Besatzungstruppen keinen Schutz erwarten konnten. Denn für Lieber waren die Nichtkombattanten schon deshalb Feinde, weil sie allein durch ihre Zugehörigkeit zu der sozialen, staatlichen oder ethnischen Gemeinschaft des Feindes einen potenziellen moralischen oder physischen Beitrag zum Widerstand oder zur Fortführung des Krieges leisten konnten. Das Verhalten von Nichtkombattanten, so harmlos es auch sein mochte, reichte nach Lieber nicht aus, um ihnen Schutz zu gewähren.
Im Lieber Code wird also der “totale Krieg” zur Norm erhoben, inklusive aller möglichen Arten von grausamem Verhalten gegen die Zivilbevölkerung, bis hin zur Zerstörung ihrer Existenzgrundlage, je nach “militärischer Notwendigkeit”. Der Code lieferte auch die Rechtfertigung, dass die Besatzungstruppen unschuldige Zivilisten zwecks Vergeltungsmaßnahmen für Überfälle von feindlichen Freischärlern als Geiseln genommen und gemäß des Ermessens des jeweiligen Kommandeurs verschleppt oder schlimmer bestraft werden.
Dementsprechend wurde die Strategie der “verbrannten Erde” das Hauptmerkmal der Unionstruppen im Bürgerkrieg. Damit wurde das Ziel verfolgt, dass der Gegner nach dem Durchzug der Unionstruppen durch bestimmte Gebiete dort nichts mehr vorfinden konnte, was ihm irgendwie hätte helfen können, denn die Häuser waren zerstört, die Ernten auf den Feldern verbrannt, alle Tiere waren gestohlen oder getötet, die Brunnen waren vergiftet. Das Los der Zivilbevölkerung interessierte nicht. Nach der Plünderung und Brandschatzung ihrer Dörfer wurden die Einwohner, die ja als Feinde angesehen wurden, vertrieben, in der Hoffnung, sie durch Verhungern zu eliminieren oder so zu schwächen, dass sie für den Feind als Arbeiter nicht mehr von Nutzen sein konnten.
Man braucht keine große Vorstellungskraft, um zu verstehen, welche Leiden die Zivilbevölkerung in den besetzten Südstaaten in Gestalt der Unionstruppen heimgesucht haben. In der Landbevölkerung der am meisten vom Bürgerkrieg betroffenen Südstaaten der USA sitzt heute noch das Misstrauen gegen Washington tief.
Diese “Strategie der verbrannten Erde”, die durch den Lieber Code legalisiert wurde, wurde von dem berühmten und bis heute verehrten Nordstaaten-General William Tecumseh Sherman im Amerikanischen Bürgerkrieg mit vorbildlicher Gnadenlosigkeit durchgesetzt, nicht nur gegen gefangene Soldaten, sondern vor allem auch gegen Zigtausende von Zivilisten der Gegenseite. Davon zeugen zahllose Dokumente, einschließlich seiner eigenen Memoiren.
General Sherman war bei Weitem nicht der einzige Nordstaaten-General, der den Lieber Code in seiner brutalsten Auslegung, nämlich der “Taktik der verbrannten Erde”, im Bürgerkrieg gegen die Zivilbevölkerung der Südstaaten und später in den Indianerkriegen umsetzte. Aber wegen seiner damit erreichten “militärischen Erfolge”, vor allem mit seinem gewagten “March to the Sea”, wird Sherman auch heute noch vom US-Militär gefeiert. Unter anderem wurde der berühmteste Panzer der US-Armee im Zweiten Weltkrieg nach dem Kriegsverbrecher Sherman benannt.
Offensichtlich hatte der Lieber Code nicht nur damals das Denken der führenden Generäle der Nordstaaten im Bürgerkrieg maßgebend beeinflusst, sondern er scheint im US-Militär bis heute eine lang anhaltende Wirkung gezeigt zu haben. So konnte man z. B. 100 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg im US-Krieg in Vietnam eine direkte Umsetzung der großflächigen Anwendung von Shermans “Strategie der verbrannten Erde” sehen.
Laut damaliger Aussage der US-Militärführung bewegten sich die Verbände der vietnamesischen Freiheitkämpfer von Dorf zu Dorf “wie Fische im Teich”, denen man schlecht habhaft werden konnte. Also änderte das US-Militär seine Strategie und “ließ das Wasser aus dem Teich”: Es vertrieb die Einwohner, zerstörte die Dörfer, verbrannte die Ernten auf den Feldern und errichtete “freie Feuerzonen”, wo von Flugzeugen und Hubschraubern bei regelmäßigen Patrouillenflügen auf alles geschossen wurde, was sich am Boden bewegte.
Von den Philippinen über Korea nach Vietnam – Teil 3
Sowohl in den zahllosen “Indianerkriegen”, die dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) folgten, als auch in den ersten imperialistischen Eroberungskriegen der USA auf der anderen Seite des Erdballs fand der “Lieber Code” (siehe Teil 2 dieser Serie) als juristischer Leitfaden für militärisches Handeln seinen Widerhall in der Grausamkeit der US-Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung der besetzten Territorien und Länder. 35 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs und wenige Jahre nach dem letzten “Indianerkrieg” befreiten die USA in einem Akt selbstloser Hilfe die Philippinen vom Joch der spanischen Kolonialherrschaft, um dann dort selbst die Herrschaft zu übernehmen. Und dabei ging es nicht besser zu als bei den “Indianerkriegen”.
Der US-Kriegsheld General Philip Henry Sheridan hatte mit seinem Ausspruch unsterblichen Ruhm erlangt, als er einer der Protagonisten der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner sagte: “Die einzig guten Indianer, die ich jemals sah, waren tot.” In Abwandlung wurde diese Aussage später auch auf Philippinos angewandt.
Nach dem US-Bürgerkrieg gehörte zu den Heldentaten Sheridans, wie vom “Lieber Code” empfohlen und von seinem Nordstaaten-Waffenbruder General Sherman während des Bürgerkriegs in den besetzten Südstaaten vorgemacht, die Existenzgrundlage der Stämme der Ureinwohner in den westlichen Territorien Nordamerikas zu vernichten. General Sheridan ließ z. B. systematisch die Büffelherden vernichten und die Dörfer der Ureinwohner niederbrennen. Unter anderem war er verantwortlich für den Überfall auf das Dorf am Washita am 27. November 1868, bei dem die schlafenden Ureinwohner überfallen und 100 Cheyenne zusammen mit Frauen und Kindern massakriert wurden.
Diese Heldentaten Sheridans sind noch heute in den US-Streitkräften lebendig. Genau wie das Andenken General Shermans damit geehrt wurde, dass der berühmteste US-Panzer des Zweiten Weltkriegs nach ihm benannt wurde, so wurde 25 Jahre später zu Zeiten des Kalten Krieges ein neuer lufttransportfähiger Aufklärungspanzer, der auch im US-Krieg in Vietnam zum Einsatz kam, nach dem Ureinwohnerschlächter Sheridan benannt.
Nach der “Befriedung” des amerikanischen Westens durch den Genozid an der indigenen Bevölkerung gewannen imperiale Gelüste in Washington die Oberhand. So rückten die Philippinen in den Fokus der US-Begehrlichkeiten. Die spanischen Kolonialherren sollten vertrieben und die Philippinos mit US-Demokratie beglückt und ausgebeutet werden.
Nach einer kurzen Übergangsphase, in der die philippinischen Eliten durchaus bereit schienen, zum eigenen Vorteil Vasallen der neuen Herren aus den USA zu werden, wendete sich das Blatt jedoch rapide. Denn die US-Besatzer hatten nicht nur keine Ahnung von asiatischer Mentalität und Kultur, sondern sie behandelten die Philippinos, die sie wegen ihrer dunklen Haut “Nigger” nannten, nicht anders, als sie das zu Hause in den USA mit den Ureinwohnern und den schwarzen Sklaven getan hatten. Es war kein Wunder, dass die Philippinos schon bald keinen Gefallen mehr an dem US-Demokratie-Geschenk fanden und es zu bewaffneten Aufständen gegen die US-“Befreier” kam.
Die Art der Kriegführung der US-Besatzer auf den Philippinen wurde damals als “Injun-Kriegführung” bezeichnet. Welche Schrecken für die lokale Zivilbevölkerung hinter diesem Begriff stecken, legte der renommierte US-Professor Samuel Moyn, der an der Yale University Geschichte und Jura lehrt, unter Berufung auf zeitgenössische Dokumente und Briefe von US-Besatzungssoldaten nach Hause in seinem neuen Buch mit dem Titel “Human: Wie die Vereinigten Staaten den Frieden aufgaben und den Krieg neu erfanden” (Humane: How the United States Abandoned Peace and Reinvented War) dar. I
Laut Moyn bedeutete “‘Injun-Kriegführung’, also die US-Kriegführung auf den Philippinen”, dass “nicht selten in den Dörfern die Ernten verbrannt und die Tiere getötet wurden, um nichts – auch keine Menschen – zurückzulassen”. Laut Moyn gab es keine Militärgesetze, die die Philippinos vor der US-Gewalt geschützt hätten, zumal der Lieber Code Repressalien gegen die Zivilbevölkerung explizit nicht verboten habe. Tatsächlich empfahl dieser dem US-Militär sogar, auch in der Zivilbevölkerung den Feind zu sehen. So machte denn auch auf den Philippinen das US-Militär keinen Unterschied zwischen Nichtkombattanten und aufständischen Kämpfern. Dazu bringt Professor Moyn als Beispiel den Befehl des US- Kommandeurs Jacob Smith an seine Streitkräfte und zitiert diesen: “Ich möchte, dass alle Menschen getötet werden, die in der Lage sind, bei tatsächlichen Kampfhandlungen Waffen zu tragen.” Dann spezifizierte der US-Offizier Smith, dass er damit alle männliche Einwohner “ab zehn Jahren” meint. II
Das Buch von Michael Krenn von der University of Miami gibt einen gut dokumentierten Einblick in die Sichtweise der einfachen US-Soldaten im Krieg auf den Philippinen, von denen etliche Altgediente noch an der Vernichtung der Ureinwohner teilgenommen hatten. Hier folgen einige Auszüge aus seinem Buch “Race and US Foreign Policy from 1900 to World War II (Rasse und US-Außenpolitik von 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg”) III:
“Ein amerikanischer Soldat erklärte gegenüber einem Reporter: ‘Das Land wird erst Frieden finden, wenn wir den letzten Nigger gekillt haben, genau wie mit den Indianern.’ Ein anderer Soldat sagte: ‘Der einzig gute Philippino ist ein toter Philippino. Wir nehmen keine Gefangenen.'”
“Tatsächlich gab es generell eine Politik des ‘no quarter’. (Erklärung: Das heißt, dass keine Gefangenen gemacht werden. Auch wer sich ergibt, wird umgebracht.) Diese Strategie wurde mit der angeblich extremen Grausamkeiten der philippinischen Aufständischen rechtfertigt.”
“‘Deshalb killen wir auch alle Verwundeten. Alle von ihnen’, erklärte ein anderer US-Soldat und führte weiter aus: ‘Die Altgedienten unter uns sagen, dass es keine Grausamkeit gibt, die schlimm genug ist für diese hirnlosen Affen, die kein Gespür für Ehre, Freundlichkeit und Gerechtigkeit haben. Bei einem solchen Feind überrascht es nicht, wenn unsere Jungs nach dem Motto des ‘no quarter’ handeln und sie mit Blei vollpumpen, bevor sie überhaupt wissen wollen, ob es sich um Freund oder Feind handelt.'”
Als General Arthur MacArthur als Kommandeur der philippinischen US-Expeditionsarmee von einem Kongressausschuss gefragt wurde, warum auf Seiten des philippinischen Gegners das Verhältnis zwischen Toten und Verwundeten bei 15 zu 1 lag, wobei es doch sonst in Kriegen immer viel mehr Verwundete als Tote gibt, erklärte McArthur das mit der rassistischen Minderwertigkeit der Philippinos, weshalb diese schneller an ihren Wunden sterben würden als die überlegenen Angelsachsen.
Als Adna Chaffee im Juli 1901 Arthur MacArthur als militärischer Prokonsul des neuen US-Imperiums auf den Philippinen nachfolgte, setzte er laut Professor Moyn treu den Ansatz fort, der im geltenden US-Handbuch zur Kriegführung stand, nämlich im Lieber Code, wonach intensive bzw. totale Kriege unter Einbeziehung der Zivilbevölkerung auf lange Sicht am besten seien, da sie den Gegner am schnellsten davon überzeugten, sich zu unterwerfen und den Konflikt schneller zu beenden. Dementsprechend eskalierte Chaffee in der Tradition der “Injun-Kriegführung” den Konflikt weiter,ohne jemals von Washington zurückgepfiffen zu werden.
Bei der Recherche über die “Injun-Kriegführung” auf den Philippinen stößt man auch zwangsläufig auf eine schon damals von US-Besatzern beim Verhör von Gefangenen weit verbreitete Foltermethode, die auch 100 Jahre später noch im Irak gegen hochrangige Gefangene angewandt wurde. Als bekannt wurde, dass im irakischen US-Militärgefängnis Abu Ghraib regelmäßige die Waterboarding-Folter eingesetzt wurde, sorgte das weltweit für Entsetzen und Abscheu. Im Wertewesten dauerte die Betroffenheit jedoch nur kurz, und schon dominierten wieder die Medienberichte von den USA als Leuchtturm von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.
Beim US-Militär selbst wurde die Aufregung ums Waterboarding eher mit Unverständnis aufgenommen, nach dem Motto “Viel Lärm um Nichts”. Denn die Methode des Waterboardings, mit der damals auf den Philippinen Verdächtige verhört wurden, sei viel brutaler gewesen als im Irak. Damals hieß die Methode auch noch nicht Waterboarding, sondern zynisch “Wasserkur”. Ein Offizier der US-Armee rechtfertigte seinerzeit diese Methode sogar als “milde” Form der Folter, da nur etwa ein Viertel der Menschen, die ihr ausgesetzt waren, dabei starben, worauf Stuart Creighton Miller Professor an der San Francisco State University im Jahre 1982 in seinem Buch “The American Conquest of the Philippines, 1899–1903” hingewiesen hat. IV
Die Kontinuität dieser Verbrechen, die Leichtigkeit, mit der sie begangen wurden und immer noch werden, und die Art, wie noch heute im US-Militär die Täter in der Regel straffrei davonkommen, zieht sich wie ein roter Faden durch die unzähligen Kriege, die das aufsteigende US-Imperium im Lauf der letzten 120 Jahre rund um die Welt führte.
So setzte sich das kriegsverbrecherische Erbe der Strategie der “Verbrannten Erde” aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg fort: über die Ausrottungskriege gegen die Ureinwohner, die ersten Kolonialkriege auf den Philippinen, über die Kriege in Korea und Vietnam bis zu Afghanistan, dem Irak, Syrien und vielen anderen aktuellen Schauplätzen.
Unter den älteren US-Offizieren des US-Expeditionskorps auf den Philippinen, die schon in den Ausrottungskriegen gegen die Ureinwohner gekämpft hatten, stand der kommandierende General Arthur MacArthur an erster Stelle. Er war der Vater von General Douglas MacArthur, des späteren Oberkommandierenden aller US-Streitkräfte im Pazifik während des Zweiten Weltkriegs. Das stellt mehr als eine symbolische Verknüpfung zwischen den Indianerkriegen, dem Krieg in den Philippinen und dem gegen Japan und später in Korea und Vietnam dar. Allen gemeinsam ist die brutale Behandlung der Zivilbevölkerung in der abscheulichen Tradition des Lieber Codes.
Den älteren Lesern ist der US-Vernichtungskrieg in Vietnam mit seinen unendlichen Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung sicherlich noch viel gegenwärtiger als der US-Krieg in Korea. Leser in meinem Alter erinnern sich sicherlich noch, wie damals die US-Kriegführung in den täglichen Stellungnahmen als Maßstab ihrer Erfolge den sogenannten “Body Count” eingeführt hatte. Das bedeutete: Je größer die gemeldete Zahl der Leichen des Gegners, desto bedeutender war der militärische Erfolg. Die Tatsache, dass man bei den getöteten, zerfetzten oder verbrannten Vietnamesen weder zwischen Kämpfern und Zivilisten noch zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheiden konnte, spielte dabei keine Rolle, denn laut Lieber Code war auch die Zivilbevölkerung der Feind.
Beim Body Count war nur eines wichtig: eine möglichst große Zahl an Toten. Diese Zahl wurde zusätzlich erhöht durch die “Strategie der Verbrannten Erde” in Form von “Freien Feuerzonen”, in denen auf alles geschossen wurde, was sich bewegte, durch den massenhaften Einsatz von Napalm und der Chemiewaffe “Agent Orange” und durch Massaker wie das von Mỹ Lai, bei denen ganze Dörfer mit allen Einwohnern groß und klein ausgelöscht wurden. Und dennoch behauptet der bereits oben erwähnte Historiker Moyn in seinem Buch, dass der Koreakrieg im Vergleich zum US-Krieg in Vietnam, so schlimm der auch gewesen sei, noch viel schlimmer war.
“Korea war der brutalste Krieg des 20. Jahrhunderts, gemessen an der Intensität der Gewalt und den Pro-Kopf-Todesfällen von Zivilisten. In drei Jahren starben vier Millionen, und die Hälfte von ihnen waren Zivilisten – ein höherer Anteil der Bevölkerung als in jedem modernen Krieg, einschließlich des Zweiten Weltkriegs und des Vietnamkonflikts”, schreibt Moyn auf Seite 135 seines Buches.
Tatsächlich hatte der Autor dieser Zeilen im Oktober 1999 in US-Medien einen ersten Hinweis gefunden, dass die bereits traditionell mörderische Rücksichtslosigkeit der US-Militärführung gegen die lokale Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten sich auch in Korea fortgesetzt hatte. Ein von US-Soldaten verübtes Massaker an koreanischen Zivilisten, das fast 50 Jahre erfolgreich vertuscht worden war, war durch eine Reihe von Zufällen, verbunden mit einer einzigartigen Beharrlichkeit einiger Betroffener, doch noch ans Licht gekommen.
Demnach hatten in den ersten Wochen des Koreakrieges US-Soldaten in einem einzigen Massaker Hunderte von zivilen Flüchtlingen mit Vorsatz ermordet. Etwa 300 Männer, Frauen und Kinder, die bei Nogeun-ri, einem kleinen Dorf etwa 160 Kilometer südöstlich von Seoul, unter einer Eisenbahnbrücke unweit der US-Linien vor den Angriffen der US-Bomber Zuflucht gesucht hatten, waren dort von US-Maschinengewehrfeuer absichtlich niedergemäht worden.
“Es war eine Massenschlächterei”, zitiert die US-Nachrichtagentur Associated Press (AP) im Oktober 1999 den ehemaligen US-Soldaten Herman Patterson in einem Interview. “Wir haben sie einfach ausgelöscht”, erinnert sich Norman Tinkler, ein anderer GI, der damals auf amerikanischer Seite an diesem Kriegsverbrechen beteiligt war.
Obwohl die 25 Überlebenden des Massakers und Angehörige der Ermordeten im Laufe der letzten 50 Jahre auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit sich immer wieder an die südkoreanischen und US-amerikanischen Behörden gewandt hatten, waren sie stets schroff zurückgewiesen worden. Nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, schenkte ihnen niemand Glauben. Nicht einmal eine grobe Untersuchung der Vorwürfe wurde von US-Stellen angeordnet. Erst nachdem AP im Jahr 1999 über viele Monate hinweg die noch lebenden US-Kriegsveteranen aufgespürt hatte, die damals an Ort und Stelle dabei gewesen waren, horchten die USA auf. Als dann auch noch etwa ein Dutzend der ehemaligen Soldaten die Gräueltat bestätigten, befahl der 1999 amtierende US-Kriegsminister Cohen, die Pentagon-Archive nach weiteren Hinweisen für die Untat zu durchforsten.
Den damaligen Berichten von US-Medien zufolge hatten die Erinnerungen der US-Kriegsveteranen die Erzählungen der Überlebenden und Angehörigen der Ende Juli 1950 bei Nogeun-ri ermordeten koreanischen Opfer bestätigt. Nachdem bereits 100 koreanische Kriegsflüchtlinge bei den Bombenangriffen amerikanischer Flugzeuge umgekommen waren, hatten etwa 300 weitere Flüchtlinge unter der Brücke Schutz gesucht. Die in der Nähe positionierten US-Soldaten fühlten sich dadurch bedrängt und begannen auf Befehl ihrer Offiziere, in die unbewaffnete Menge zu schießen.
AP zitierte einen US-Veteranen, Eugene Heselman von Fort Mitchell in Kentucky, der sich daran erinnerte, wie sein Hauptmann gesagt hatte: “Zur Hölle mit all den Leuten. Macht sie fertig.” Und Norman Glasco, ein Maschinengewehrschütze aus Kansas, sagte: “Wie haben sie alle vernichtet.” Sechs Veteranen der 1. Kavalleriedivision gestanden, dass sie selbst auf die Gruppe der Flüchtlinge bei Nogeun-ri gefeuert hatten. Sechs weitere sagten, dass sie Augenzeugen der Erschießungen gewesen waren.
Andere Veteranen erinnerten sich, dass es unabhängig von Nogeun-ri seinerzeit ausdrückliche Befehle der US-Offiziere gab, auf zivile Flüchtlinge zu schießen, wenn diese sich ihren Linien näherten, um sich so gegen vermeintlich feindliche Soldaten in deren Reihen zu schützen.
In monatelangen Recherchen in US-Militärarchiven fand AP Dokumente, die diese verbrecherischen Befehle bestätigen. Daher liegt bis heute der Verdacht nahe, dass es sich bei Nogeun-ri nicht um einen Einzelfall handelt.
Das Pentagon hatte damals sofort gegengesteuert, und der damalige Pressesprecher Kenneth Bacon erklärte flugs, seine Behörde bleibe bei der Feststellung, dass Historiker der US-Streitkräfte nach eingehender Durchsuchung der Militärarchive “keinerlei Hinweise gefunden haben, dass Soldaten der US-Armee an einem Massaker an südkoreanischen Zivilisten beteiligt waren”.
Er hätte auch sagen können: “Vertraut uns. Wir sind von der Regierung!”